Kapitel 83

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Sie spürte ihren Herzschlag so kräftig in ihrer Brust, dass sie fast meinte, keine Luft mehr zu bekommen, doch alles blieb still. Weder war das Geschrei einer Eule zu vernehmen noch traf sie irgendein Fluch. Vorsichtig betrat Ginny den Rasen, der weniger Gefahr bot, ihre Schritte mit einem Knirschen zu verraten. Wie leichtsinnig konnte sie sein, sich ohne Zauberstab hierher zu wagen. Mit jedem Meter, den sie dem Haus näher kam, wuchs allerdings Ginnys Beklommenheit und ohne die Möglichkeit, sich verteidigen zu können, fühlte sie sich extrem ausgeliefert.

Jede Bewegung, die sie tat, fühlte sich schwerer als die vorige an, als hielte sie etwas zurück, als ringe sie gegen ein unsichtbares Magnetfeld, das sie zurück an den Zaun zu drängen trachtete. Es war nicht nur Angst, gegen die sie ankämpfte, sondern auch ein vom Garten selbst ausgehender Widerstand, der jeden ihrer Schritte mit mehr Gegendruck beantwortete.

Als sie endlich die Hauswand erreicht hatte, war Ginny schweißgebadet und erschöpft lehnte sie sich ein paar Sekunden gegen den in der Kühle der Abends feuchten Backstein. Dann richtete sie sich auf und winkte in die Richtung hinüber, in der sie Ron und Hermine wusste.

Doch nichts geschah. Verärgert musste Ginny sich eingestehen, dass sie in der Dunkelheit vermutlich für Ron und Hermine genauso wenig zu sehen war wie die beiden für sie. Sie fuhr mehrmals mit den Zähnen über ihre Lippen und dachte verzweifelt nach. Sie konnte auf keinen Fall ohne Zauberstab weitergehen. Zurückzuschleichen war jedoch ebenfalls keine Option. Schließlich bückte sie sich und strich mit der Hand über den Boden, bis sie etwas ertastete, das ihr weiterhelfen würde. Entschlossen nahm sie den Tannenzapfen in ihre Hand, stand wieder auf und warf ihn so kräftig wie möglich in Richtung Garten, wo er zum Glück lautlos hinunter auf den Rasen fiel.

Nur wenige Sekunde später kam ihr Zauberstab auf sie zugeflogen und überaus nervös streckte Ginny ihre Hand nach ihm aus. Zu ihrer großen Erleichterung blieb erneut alles ruhig. Es schien, als würde sich der Schutzzauber nur gegen Besucher richten, die das Grundstück von außen betraten. Ginny warf einen dankbaren Blick zurück zur Straße, wo Ron und Hermine weiterhin von der Dunkelheit verschluckt waren, und ließ dann ihre Augen zum Küchenfenster hinüberwandern, von dem aus ein einsamer Lichtkegel auf den Rasen fiel.

Sie verfluchte die Tatsache, dass das Ministerium mangels konkreter Beweise, die Ambers Verbindung zu den Morden an den Muggeln belegten, nicht tätig werden konnte. Trotz mehrmaligen Schluckens war ihr Hals so trocken, als hätte sie den ganzen Tag nichts getrunken, und die Hand, die den Zauberstab hielt, zitterte. Wenn Harry tatsächlich unter Ambers Kontrolle stand – wie wahrscheinlich war es, dass sie das hier überleben würde, wenn sie Amber alleine gegenüber stand, ohne dass Ron und Hermine ihr zur Hilfe eilen konnten? Ohne dass sich ihre Mutter beschützend vor sie warf, wie sie es vor drei Jahren im Kampf gegen Bellatrix getan hatte?

Die Erinnerung stand Ginny so lebhaft vor Augen, als wäre es erst gestern gewesen. Ein ganzes Leben hatte ihre Mutter ihr dadurch geschenkt. Sollten es jetzt die letzten drei Jahre ihres Lebens gewesen sein? Mum, Dad, verzeiht mir, dass ich tu, was ich tun muss, fuhr es Ginny durch den Kopf. Aber solange die Hoffnung bestand, dass Harry noch am Leben war, gab es für sie kein Zurück mehr.

Und mit dem Gedanken an Harry fühlte sie die Entschlossenheit in sich wachsen, alles zu riskieren. Für ihn. Für die Liebe, die sie nie aufgehört hatte zu empfinden.

Entschlossen setzte Ginny daher einen Fuß vor den anderen und schlich mit äußerster Vorsicht dicht an der Hauswand entlang auf den Lichtschein zu. Direkt neben dem Fensterrahmen verharrte sie, presste sich dicht an die Mauer und flüsterte dann nervös einen Geräuschverstärker-Zauber, da von drinnen wegen des geschlossenen Fensters keine Stimmen zu vernehmen waren.

Harry Potter und das süße Gift der HoffnungWhere stories live. Discover now