Kapitel 82

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Ginny landete direkt an der Ecke der Straße, an der sich Harrys Haus befand, das im Licht der Straßenlaternen gerade noch auszumachen war. Unauffällig schlich sie im Schatten der hohen Büsche, die hie und da die Straße säumten, näher heran, ohne bislang einen Plan zu haben, wie sie vorgehen wollte. Aber dass sie etwas tun musste, stand außer Frage – sie konnte nicht abwarten, bis ein Plan geschmiedet war, sie musste jetzt handeln! So beängstigend die zwei Wörter unter Kontrolle auch klangen, so schienen sie dennoch immerhin anzudeuten, dass Harry am Leben war und dass Amber, zumindest im Moment, nicht seinen Tod zu beabsichtigen schien.

Schließlich stand Ginny, verborgen von einer Lorbeerhecke auf der anderen Straßenseite, direkt dem Haus gegenüber, das in seiner ganzen Schwärze Unheil auszustrahlen schien. Lediglich ein einziges Fenster war erleuchtet, da, wo Ginny die Küche wusste. Ein Schauer durchfuhr sie. War es wirklich erst ein paar Stunden her, dass sie zu Viert bei Fortescues gesessen und das weitere Vorgehen beratschlagt hatten?

Warum bloß hatte sie Harry nicht davon abgehalten, zu Amber zurückzukehren? Niemals hätten sie es ihm erlauben sollen! Was würde sie jetzt darum geben, die Zeit zurückdrehen zu können! Die Kehle wurde Ginny eng, wenn sie daran dachte. Ungefragt kamen ihr Erinnerungen in den Sinn, an die schönen Zeiten mit Harry, so voller Leichtigkeit und Euphorie direkt nach dem Sieg über Voldemort, in dem festen Glauben, dass nun alles Schlimme endgültig vorbei war.

Bis Harry dann die Schatten seiner Vergangenheit einzuholen begonnen hatten. Erst die Alpträume, die ihn jede Nacht aus dem Schlaf gerissen hatten, und dann, ganz allmählich, der stille Rückzug, in dem jeden Tag ein bisschen mehr von ihm verschwunden war, bis er nur noch schwaches Abbild seines früheren Selbst abgegeben hatte. Tagtäglich hatte Ginny es vor Augen gehabt und nichts, absolut nichts, machen können. All ihre Bemühungen, ihn für das zu aktivieren, was er früher geliebt hatte, Fliegen, Quidditch, ausgedehnte Touren ans Meer, waren krachend gescheitert.

Sie war krachend gescheitert, hatte es mit all ihrer Liebe nicht vermocht, seine Lethargie zu durchdringen und hatte es schließlich nicht mehr ausgehalten, ihn so zu erleben, sondern war gegangen. Und auch wenn Ginny gegenüber Ron und allen denen, deren missbilligende Gedanken sie gespürt hatte, so tat, als würde ihr die stille Kritik nichts ausmachen, so litt sie dennoch unter Schuldgefühlen. Rational wusste sie, dass sie keine Wahl gehabt hatte, wenn sie verhindern wollte, dass sie selbst an dieser Belastung kaputt ging. Doch es fühlte sich für sie nichtdestotrotz so an, als hätte sie Harry in Stich gelassen. Etwas, das sie heute definitiv nicht zu wiederholen beabsichtigte!

Vorsichtig huschte Ginny über die Straße, verbarg sich in einem immergrünen Busch und sah erneut zum Haus hinüber, das helle Küchenfenster ein kleines leuchtendes Quadrat in dem in tiefe Dunkelheit gehüllten Grundstück. War das, wo sich Amber befand? Wo sie Harry kontrollieren konnte, was auch immer das heißen mochte? Hatte sie ihn mit dem Imperius-Fluch belegt? Der Drang, etwas zu tun, wurde übermächtig und verdrängte die warnende Stimme in Ginny, die ihr empfahl, auf Hermine und Ron zu warten. Fieberhaft dachte sie darüber nach, wie sie den Warnzauber überwinden konnte, von dem Harry gesprochen hatte.

Der Zufall kam ihr in Gestalt einer Katze zur Hilfe, die sich neugierig durch den Zaun zwängte. Unbehelligt spazierte sie über den Kiesweg und senkte dann den Kopf, um einen Stein zu beschnüffeln. Ginny starrte sie von ihrer Warte aus überrascht an, denn es war schlichtweg nicht vorstellbar, dass dieser Warnzauber, von dem Harry gesprochen hatte, nun ausgeschaltet war. War es, weil er nicht auf Tiere reagierte? Würde er nur bei Magiern anspringen? Oder gar nicht, um sie womöglich in eine Falle zu locken? Es gab nur eine Möglichkeit, etwas mehr in Erfahrung zu bringen...

Kritisch betrachtete Ginny das im fahlen Licht glänzende Gartentor. Was würde passieren, wenn sie es öffnete, ohne einen Schritt auf das Grundstück zu wagen? Sie spürte kalten Schweiß ihren Rücken herunter rinnen. Egal, sie musste es probieren. Sie trat zwei Schritte auf das Tor zu, hob ihren Zauberstab und flüsterte leise: „Alohomora."

Harry Potter und das süße Gift der HoffnungWhere stories live. Discover now