Kapitel 46

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Draco hatte inzwischen das fatale Gefühl, dass ihnen die Zeit davonlief. Sie waren der Enthüllung, wer seine Tante um Leben gebracht hatte, keinen Schritt weitergekommen. Er war noch keinen Schritt weitergekommen. Und es konnte möglicherweise absolut wichtig sein!

Sollten sich Auroren am Tod seiner Tante schuldig gemacht haben, dann hätten seine Mutter und er ein Druckmittel gegenüber dem Ministerium. Denn ein Mord an einer gesuchten Verbrecherin war nach den jetzt wieder geltenden Gesetzen des Ministeriums nicht legal. Insofern war es natürlich kein Wunder, wenn man es in der Öffentlichkeit so aussehen ließe, als wüssten die Auroren selbst nichts über den angeblich unerklärlichen Tod von Bellatrix Lestrange.

Vergangenes Wochenende war es seiner Mutter endlich gelungen, mithilfe einer nicht gerade geringen Bestechungssumme eine Besuchserlaubnis für Azkaban zu erhalten. Was sie dort gesehen hatte, hatte sie erschüttert, und ihre normalerweise helle Gesichtsfarbe war aschfahl gewesen, als sie wieder nach Malfoy Manor zurückgekehrt war. Ihr Anblick genügte Draco, um auf die Nachfrage nach weiteren Einzelheiten zu verzichten. Ungefragt hatte seine Mutter ihm jedoch mit blanken Augen und tonloser Stimme zu verstehen gegeben, dass sein Vater offenbar nicht mehr lange durchhalten würde...

Draco wusste nicht warum, aber diese Tatsache hatte ihn in dem Moment merkwürdig unberührt gelassen. Vielleicht lag es daran, dass er seinem Vater noch immer übel nahm, dass er sie alle in diese Lage gebracht hatte, in der sie sich jetzt befanden. Er selbst zumindest hätte gut auf die zweifelhafte Ehre verzichten können, der jüngste Todesser aller Zeiten zu sein. Er hatte seinen Gesichtszügen die gewünschte Emotion verpasst, um seiner Mutter keinen Grund für Misstrauen zu geben, aber gespürt hatte er dennoch nichts als Leere.

Draco schluckte den Kloß, der sich in seiner Kehle gebildet hatte, hinunter und konstatierte mit einer angesichts der Situation merkwürdigen Erleichterung, dass ihn die Lage seines Vaters inzwischen durchaus wieder zu erschüttern vermochte. So sollte es sein. Denn trotz all seiner Fehler blieb Lucius dennoch sein Vater und er hatte ein Recht darauf, dass sein Sohn alles unternahm, um ihn aus Azkaban herauszubekommen. Unter seinem Umhang ballte Draco die Hände zu Fäusten, bis die Finger schmerzten.

Der neue Zauberspruch hatte bewiesen, dass es möglich war, auch vergangene Verwünschungen rückgängig zu machen, und es wurde daher allmählich Zeit, ihn dem Ministerium zu präsentieren. Einem Teenager würde das Ministerium allerdings schwerlich glauben, noch dazu einem, der mit ihm verwandt war. Aber wenn er bei Hermines Eltern erfolgreich war...

Es war Hermine, von der sich Draco erhoffte, dass sie zuerst mit ihrem Anliegen an ihn herantreten würde. Er hatte vor, ihr noch zwei Gelegenheiten zu geben, bei denen ihr klar werden sollte, dass er etwas besaß, was sie unbedingt haben wollte. Sollte das nicht klappen, dann würde er wohl oder übel nochmal seine Bitte wiederholen müssen und ihr im Austausch dafür versprechen, die Erinnerung ihrer Eltern wiederherzustellen. Draco war davon überzeugt, dass Hermine nicht umhin kommen würde, darauf einzugehen...

Aber die Zeit drängte. Allein deshalb hatte Draco die Hauselfe Rissa in den letzten beiden Tagen damit beauftragt, Hermines Kommen und Gehen in der Redaktion des Flügelschlag nachzuspüren. Leider hatte die Hauselfe Hermine weder am Morgen noch am Abend beobachten können, was wohl bedeutete, dass Hermine über das Flohnetzwerk reiste. Doch offenbar ging sie regelmäßig mit den ebenfalls in der Reaktion arbeitenden Zauberern um 13.oo Uhr in das nahegelegene Bistro, das genauso wie der Leaky Cauldron die Zaubererwelt mit der Muggelwelt verband.

Draco hoffte, dass dies auch heute auch der Fall sein würde. Deswegen befand er sich nun hier neben dem Bistro auf der der Reaktion gegenüberliegenden Straßenseite. Er rümpfte die Nase über den Gestank, den die Muggelfahrzeuge verbreiteten, während sie mit ohrenbetäubenden Geräuschen die Fleet Street entlangfuhren. Aus Sorge davor, Hermine zu verpassen, wenn sie aus der Redaktion trat, hatte er sich für das Warten außerhalb des Bistros entschieden, was er bereits bereute.

Die Straße war voller Muggel, die die schmalen Fußwege bevölkerten und sich mit ihren großen, auf den Rücken geschnallten Taschen manchmal selbst blockierten. Viele von ihnen trugen auffallend bunte Kleidung, was Draco schon in der Zaubererwelt unter seinesgleichen missfiel. Für gewöhnlich verschwendete er keinen Gedanken an diese einfältigen, nicht-magischen Subjekte, die nur, wenn man nicht genau hinsah, äußerlich Ähnlichkeiten mit Hexen und Zauberern aufwiesen. Lediglich in dem Jahr, an dem der dunkle Lord zurück an die Macht gekehrt war, hatten Dracos Gedanken länger bei den Muggeln verweilt, denn die Todesserversammlungen, denen Draco in den großen Ferien beigewohnt hatte, waren stets von Hetzereien gegenüber Muggeln geprägt gewesen.

Ein Frösteln durchlief Draco, als er sich daran erinnerte, dass auch von ihm erwartet worden war, sich an den Muggeljagden zu beteiligen – es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie diese endeten. Doch es war seine Mutter gewesen, die mit leiser, devoter Stimme darauf aufmerksam gemacht hatte, dass es in Zukunft von Vorteil sein würde, einen brillanten jungen Hogwarts-Absolventen in ihren Rängen zu haben, wofür Draco jedoch auch in den Ferien zu lernen hätte...

Ein Argument, das Gnade vor den Augen des dunklen Lords gefunden hatte. Draco konnte kaum ermessen, wie viel Mut diese Äußerung seine Mutter gekostet haben musste. Die vermutlich nur deshalb auf fruchtbaren Boden gefallen war, weil der dunkle Lord aufgrund des Todes von Dumbledore in ausgesprochen erfreuter Stimmung gewesen war. Es war einer der wenigen Momente seines Lebens, in der Draco hinter der eiskalten Strenge, die seine Mutter wie eine zweite Haut umgab, eine gefühlvolle Regung erkannt hatte.

Und genau deshalb war er jetzt hier! Um seiner Mutter zu ermöglichen, den Mann zurückzubekommen, den sie so schmerzlich vermisste.

Erneut ließ Draco seinen Blick über die belebte Straße schweifen. Eine kleine Gruppe auf Französisch parlierender Muggel lenkte seine Aufmerksamkeit auf die sich direkt neben der Redaktion befindenden Geschäfte, ein Kostümverleih auf der einen und der Nebeneingang zu einem Theater auf der anderen Seite. Dies schien zu erklären, warum die Herausgeber des Magazins entschieden hatten, die Redaktion genau hier anzusiedeln – jegliche Umhänge und lange bunte Roben, die viele Magier gewohnt waren zu tragen, würden in der Nähe dieser Nachbarn kaum für Verwunderung sorgen.

Wobei es Draco schleierhaft blieb, warum die Redaktion ihre Räume überhaupt in diesem nur von Muggeln bewohnten Gebiet eingerichtet hatte. Brachte das Nachrichtenmagazin nicht hierbei das Geheimhaltungsabkommen in Gefahr? Wahrscheinlich hatten die Herausgeber jemanden im Ministerium bestochen, um die Erlaubnis zu erhalten. Dieses ach so tolle Ministerium stellt sich nach außen immer als Hort der Integrität und Unbestechlichkeit dar, aber Draco wusste es längst besser...

Die Franzosen hatten ihre Bewunderung der im Schaufenster ausgestellten Kostüme beendet und waren weitergezogen. Ungeduldig holte Draco seine Uhr aus der Innentasche seines Umhanges. Die Zeit, in der Rissa Hermine an den letzten beiden Tagen mittags gesehen hatte, war längst vorbei. Machte es überhaupt noch Sinn, hier auszuharren?

Draco fluchte unterdrückt. Es wurde zunehmend ungemütlicher, an die Mauer gelehnt herumzustehen und auf etwas zu warten, das vielleicht nicht mehr passieren würde. Missmutig betrachtete er seinen Umhang, an dem die von Wind und Wetter malträtierte Mauer bereits ihre Spuren hinterlassen hatte. Noch nicht einmal seinen Zauberstab konnte er zum Zeitvertreib benutzten. Vielleicht sollte er doch das Bistro betreten...

Doch was wäre, wenn er Hermine dann verpasste? Dann bliebe ihm nur die Möglichkeit, der Zeitung ein Interview mit dem Sohn eines verurteilten Todessers vorzuschlagen und den Chefredakteur davon zu überzeugen – notfalls mit Bestechung – dieses Angebot anzunehmen und es Hermine zu übertragen. Ein inneres Schütteln durchfuhr Draco, denn er legte nicht wirklich Wert darauf, die Gedanken, die um seinen Vater kreisten, zum Besten zu geben. Nicht Hermine gegenüber und ganz gewiss nicht gegenüber einem Nachrichtenmagazin!

Missbilligend beobachtete er daher weiterhin diese ignoranten Muggel, die sich die Gehwege entlangschoben, ohne zu ahnen, dass er die Macht hatte, sie zu seiner Erheiterung und Erbauung in etwas zu verwandeln, nach dem ihm der Sinn stand. Draco fing den Blick eines jungen Mädchens auf, das ihm ein einladendes Lächeln schenkte, als es sich ihm näherte. Doch obwohl ihr Äußeres mit dem langen geflochtenen Blondzopf auf einem taillierten dunklen Wintermantel etwas an sich hatte, dessen Anziehungskraft er nicht leugnen konnte, wandte Draco sich fast angewidert ab. Das fehlte noch, dass ihn eine von diesen minderwertigen Muggeln direkt ansprach!

Allmählich hatte Draco mehr als genug davon, sich an diesem ungemütlichen Ort die Beine in den Bauch zu stehen. Bei Salazar, wo bloß blieb Hermine?

Harry Potter und das süße Gift der HoffnungWhere stories live. Discover now