Kapitel 74

55 9 44
                                    

Montagabend

Trotz des Zauberspruches specialis revelio hatte Harry frustriert feststellen müssen, dass sich in keinem der Räume verborgene Magie offenbart hatte. Im Grunde genommen hatte er auch nicht damit gerechnet. Aus Gründen der Vollständigkeit inspizierte er dennoch Schubladen und Schränke und blätterte Ambers Lieblingsbücher durch. Doch wenn sie wirklich etwas von ihren Überlegungen zu Papier gebracht hatte, dann befanden sich diese Aufzeichnungen höchstwahrscheinlich in ihrer Praxis.

Das Adrenalin, das ihn in seiner Suche entschlossen von Zimmer zu Zimmer geschickt hatte, ebbte langsam ab. Erneut stand Harry im Schlafzimmer und ließ seinen Blick nachdenklich auf das ungemachte Bett fallen. Anscheinend war der heutige Streit auch an Amber nicht spurlos vorübergegangen, wenn sie darüber sogar ihre geradezu sprichwörtliche Ordnung vergessen hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein...

Mit einem Gefühl, als lege sich eine Klammer um seine Brust, sank Harry auf die Matratze. Es fiel ihm schwer, das Gefühl zu benennen, das gerade seine Verfassung dominierte. War es Zorn über Ambers wahren Charakter? Verzweiflung über eine Zukunft, die nun so ganz anders schien, als er es sich erhofft hatte? Oder Trauer um eine Liebe, die vermutlich nur vorgetäuscht gewesen war?

Seine Hand fuhr über die seidige Bettwäsche. Amber liebte es stilvoll, während er deutlich weniger Wert auf das Material von Decken legte, solange sie ihren Zweck erfüllten und wärmten... Ungewollte Erinnerungen drängten sich in Harrys Gehirn. Gemütliche Stunden vorm flackernden Kamin, ein nächtlicher Spaziergang im Schneegestöber, Flüge zu Stonehenge und anderen Sehenwürdigkeiten Britanniens und immer wieder die Momente, in denen sie einander ihre Seelen offenbart hatten. Amber hatte es nicht nötig gehabt, Legilimentik anzuwenden – er hatte ihr freiwillig alles Mögliche von sich offenbart...

Grimmig ließ Harry seine Faust auf das Bett fallen. Wie viele ihrer Enthüllungen entsprachen überhaupt der Wahrheit? Und wie hatte er nur so beschränkt sein können, nichts von dem zu merken, was Amber wirklich umtrieb? Doch so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm fiel keine Situation ein, die ihm Anlass zu Misstrauen hätte geben können.

Unruhig sprang er auf und eilte ans Fenster, wo er seine erhitzte Stirn kühlte. Sein Blick schwenkte unkonzentriert vom Vorgarten hinüber zu den Nachbarhäusern, die alle viel weniger enger nebeneinanderstanden, als es im Ligusterweg bei den Dursleys der Fall gewesen war. Seine Tante wäre niemals in diese Straße gezogen, denn die Entfernung der Häuser zueinander hätte effektiv den von ihr so geliebten Tratsch und Klatsch erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht.

Der junge Zauberer löste sich von der Scheibe, die längst nicht mehr die ersehnte Kühle vermittelte, und fuhr mit dem Zeigefinger seine blitzförmige Narbe entlang. Während ihr Schmerz früher ein Warnsignal dafür gewesen war, dass von Voldemort Gefahr drohte, war sie seit dessen Tod vor drei Jahren absolut unauffällig geworden. Worüber Harry grundsätzlich froh war. Jetzt hingegen hätte er das frühere Schmerzsignal durchaus zu schätzen gewusst. Als Warnung vor einer Bedrohung, die mutmaßlich von Voldemort auf dessen Tochter übergegangen war...

Voldemorts Tochter. Zwei Worte, die Harrys Atmung beschleunigten, als hätte gerade einen Tausend-Meter-Lauf absolviert. Abscheu durchfuhr ihn bei den Gedanken an intime Momente mit der Tochter des Mörders seiner Eltern. Doch diese Empfindung verwob sich unweigerlich mit einem Gefühl der Dankbarkeit darüber, dass allein der Austausch mit Amber ihm ermöglicht hatte, die Dunkelheit zu verlassen, die sein Gemüt befallen hatte. So sehr Harry es jetzt auch hasste, dies zugeben zu müssen: ohne Amber hätte er vermutlich nicht seine Lebensfreude wiedergefunden und würde weiterhin im mentalen Kampf gegen Schuldgefühle und schmerzhafte Erinnerungen unterliegen. Und immer tiefer in Düsternis versinken...

Harry Potter und das süße Gift der HoffnungМесто, где живут истории. Откройте их для себя