Gehandicapt - Eine besondere...

By readerbunny01

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1. Platz beim Galaxy-Award in der Kategorie Jugendliteratur, vielen Dank dafür! Auch wenn Alice wegen eines U... More

Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Epilog
Nachwort

Kapitel 12

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By readerbunny01

Ich bin schon wach, als Sabine ins Zimmer kommt, um mich zu wecken. Mein Herz beginnt ständig schneller zu schlagen, wenn ich daran denke, dass Ciaran nachher kommt. Es ist Vorfreude, sicher, aber es ist auch Nervosität. Es wird das erste Mal sein, dass Sabine und Thomas Ciaran begegnen. Dieser Moment wird von allem anderen abhängen. Von was, weiß ich auch nicht genau, es ist mehr ein Gefühl, als Gewissheit. Ständig sehe ich auf die Uhr. Auf der einen Seite schreitet der Zeiger viel zu schnell, auf der anderen Seite viel zu langsam voran. Es ist auf jeden Fall nervenzehrend. Wir essen. Es herrscht eine angespannte Stimmung. Sabine und Thomas werfen sich immer wieder Blicke zu, die ich nicht zu deuten weiß, während wir schweigend essen. Schließlich sind wir fertig und Sabine und Thomas räumen den Tisch ab. Ich bleibe am Tisch sitzen, während die beiden noch die letzten Sachen für die Reise vorbereiten. Wieder wandert mein Blick zur Uhr. Dann klingelt es an der Tür. Ich erstarre.

„Fünf vor acht. Viel zu pünktlich. Will der uns in den Arsch kriechen?“ Das ist Thomas Kommentar. Na toll, das kann ja was werden. Ich rolle auf den Flur, auf den auch Thomas und Sabine kommen. Maries Vater geht zur Tür und macht sie auf. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Dort steht er auf der Türschwelle und hat sein strahlendstes Lächeln aufgesetzt. Er streckt meinem Ziehvater seine Hand entgegen und sagt: „Hallo, ich bin Ciaran. Freut mich, Sie kennen zu lernen.“

Ciaran hat keine Jacke, sondern nur ein schwarzes T-Shirt an. Missbilligend wandert Thomas Blick zu seinem Unterarm, auf dem das Tatoo prangt. Er sieht aus, als wolle er Ciaran sofort wieder wegschicken, aber er überwindet sich und nimmt die dargebotene Hand. Mir fällt ein Kieselstein vom Herzen. Ein Schritt ist geschafft, doch es liegen noch viele vor uns. Zum Glück greift nun Sabine ein. Sie reicht ihm ebenfalls die Hand und stellt sich vor: „Hallo, ich bin Sabine und das ist mein Mann Thomas. Komm doch erst mal rein.“

Sie geht einen Schritt zur Seite und lässt ihn vorbei. Als er mich erblickt, fangen seine Augen wie auf Knopfdruck noch mehr an, zu leuchten. „Hi, Alice. Wie geht's dir?“, fragt er.

„Hallo“, erwidere ich, „gut und dir?“ Ich bin mir vollauf bewusst, dass Sabine und Thomas uns beobachten. Ciaran offensichtlich auch, denn er deutet ein kurzes Augenverdrehen an, was mich das Lachen nur schwer unterdrücken lässt, bevor er antwortet: „Es könnte mir nicht besser gehen.“ Seine Augen sagen das gleiche.

„Dann lasst uns doch in die Küche gehen, damit wir noch letzte Dinge besprechen können“, schlägt Sabine vor. Ciaran tritt wie selbstverständlich hinter mich und schiebt mich Sabine hinterher. Sie bietet ihm einen Stuhl an und er setzt sich, ebenso wie Sabine und Thomas.

„Also“, beginnt sie, „ihr könnt im Prinzip alles machen, was ihr wollt, nur Sachen, die gefährlich sind und die dem Haus oder der Einrichtung schaden nicht, aber ich denke, um das zu wissen seid ihr alt genug.“ Sowohl Ciaran als auch ich nicken. „Um elf fahrt ihr dann Marie holen, Alice hat die Adresse, und dann machst du den beiden irgendwas zu essen“, fährt sie fort, „ab da kümmerst du dich auch um Marie und machst gegebenenfalls Abendessen. Wenn wir erst sehr spät zu Hause sein sollten, schickst du sie bitte um half elf ins Bett. Verstanden?“ Ciaran nickt. „Gut, dann wäre ja alles geklärt. Alice kann dir zeigen, wo alles ist. Zimmer wie zum Beispiel unser Schalfzimmer oder Büro sind selbstverständlich tabu und auch in Maries und Alices Zimmer darfst du nur mit Erlaubnis. Hab ich was vergessen?“, fragt sie an Thomas gewandt, doch bevor er irgendwas sagen kann, redet sie schon weiter: „Über Verhütung müssen wir, hoffe ich, nicht mehr sprechen?“ Mir fällt fast die Kinnlade herunter und ich reiße die Augen auf, doch Ciaran nickt ganz cool. Sabine muss sich ein Schmunzeln verkneifen. „Gut, dann hast du hier den Haustürschlüssel. Mach keinen Ärger und enttäusch uns nicht“, meint sie und schon sind sie so gut wie aus dem Haus. Sabine gibt mir noch einen Kuss auf die Wange, während Thomas für Ciaran nur einen strengen Blick übrig hat. Dann schlägt die Tür ins Schloss und sie sind weg. Im Haus ist es still. Nun sind wir alleine im Flur.

Ich blicke zu Ciaran. Er sieht zu mir und lächelt. „Okay, ich dachte mir, ich guck mal, was ihr so im Kühlschrank habt und wenn was für das Gericht, das ich vorgesehen habe, fehlt, fahren wir kurz zu mir und holen das, okay?“, fragt er und geht, ohne eine Antwort abzuwarten, in die Küche zurück. Ich komme ihm nach und sehe ihn vor dem Kühlschrank sitzen. „Mhm, Tomaten habt ihr, übrigens ist es besser, diese in Zimmertemperatur aufzubewahren, weil sie erst dann ihr volles Aroma entfalten...“, murmelt er und kramt weiter. „Gurke, Karotten, Sahne...“ Schließlich richtet er sich wieder auf und fragt: „Habt ihr Makkaronis?“

Ich nicke und rolle zu einem Küchenschrank. Leider hängt er zu hoch. „Guck mal da oben in dem Schrank“, sage ich und deute nach oben. Er tritt neben mich und macht die Türen auf. Sein Shirt spannt über seinem Rücken, während er seinen Arm streckt, um die Nudeln aus dem hintersten Teil des Schranks zu kramen, und ich kann seine Rippen sehen.

„Hab sie gefunden“, ruft er leise und lächelt mich an. Er legt sie zu den restlichen Zutaten auf den Tisch und überlegt. „Also, wir müssen noch zu mir fahren und ein paar Sachen holen. Dann kannst du gleich Mia und Hannes kennenlernen.“

„Wer sind Mia und Hannes?“, frage ich.

„Unsere Katze und unser Hund.“

„Ihr habt Haustiere?“, rufe ich überrascht und hocherfreut. Er muss daraufhin noch mehr lächeln.

„Ich wollte sowieso noch mal nach ihnen sehen, weil meine Schwester heute nicht zu Hause ist“, erzählt er.

„Du hast eine Schwester?“ Meine Überraschung wächst immer mehr.

„Ach Alice, du weißt noch ziemlich wenig über mich“, meint er und schiebt mich aus der Küche und in den Flur. „Brauchst du noch was?“

„Nein, wir können direkt los“, sage ich schnell. „Ich will endlich Hannes und Mia kennenlernen!“

Er lacht leise, ich öffne die Tür und er schiebt uns raus. Auf der Straße steht ein schwarzer Mercedes, der in der Sonne glänzt. Ciaran schiebt mich genau zu diesem Auto und bleibt etwa einen Meter vor der Tür stehen. Er geht um mich herum und öffnet sie. Dann dreht er sich zu mir und wird verlegen.

„Also bei Leuten, die... also eigentlich immer, aber besonders bei... soll man ja vorher fragen, ob... ich mein, sonst geht's ja nicht und...“, stottert er und schließt für einen kurzen Moment die Augen. Dann öffnet er sie wieder und fragt: „Alice, darf ich dich anfassen?“

„Ja klar, weil, wie du schon sagtest: anders geht's ja nicht“, lächele ich.

„Gut, also ich hab absolut keine Erfahrung“, meint er und beugt sich zu mir runter. Dann legt er einen Arm unter meine Knie und einen an meinen Rücken.

„Ich schon“, sage ich und lege meinen Arm um seine Schultern. Meine Hand liegt an seinem Hals. Meine Finger kribbeln, wo sie seine Haut berühren. Mein Herz schlägt doppelt so schnell wie normal. Seine Arme sind stark und halten mich fest. Sein Gesicht ist ganz nah an meinem, als er mich hochhebt und mich, die Füße voran, auf den Beifahrersitz setzt. Als ich richtig sitze, fährt er sich fahrig durch das schwarze Haar und dreht sich wieder um.

„So und wie klappt man das Ding jetzt zusammen?“, fragt er und begutachtet meinen Rollstuhl.

„Ich glaub, du musst den Wadengurt abnehmen, das Teil, damit die Beine nicht nach hinten rutschen“, erkläre ich und sage, als er auf den gemeinten zeigt: „Genau, dann die Fußplatten hochklappen und die Sitzfläche vorne und hinten packen und hochziehen. Der Rest geht von alleine.“ Unsicher schaue ich ihm zu, wie er versucht die Sitzfläche hochzuziehen. Es klemmt und ich hoffe, dass er das Ding nicht kaputt macht. Schließlich funktioniert es und er stößt einen Freudenschrei aus. Dann macht er meine Tür zu und ich bin kurze Zeit alleine im Inneren des Autos, bis er die Heckklappe auf macht, um den gefalteten Rollstuhl hineinzustellen. Dann macht er sie wieder zu. Es ist angenehm temperiert, was mit Sicherheit daran liegt, dass es nicht lange her ist, dass Ciaran mit dem Auto gefahren ist, und es riecht gut nach Minze. Er macht die Fahrertür auf und setzt sich vor das Steuer. Er lächelt mich kurz an, bevor er seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche kramt und sich anschnallt. Ich tue es ebenfalls. Ciaran steckt den Schlüssel in das Zündschloss und dreht ihn. Sofort erzittert der Motor und fängt an, zu brummen. Die Anzeige leuchtet auf und ich werfe einen Blick auf die Uhr. Es ist halb neun. Dann fährt Ciaran los. Er hat einen viel weicheren Fahrstil, als Thomas. Es ist schon fast elegant, wie wir über die Landstraße rasen und wie der graue Asphalt unter uns hinwegrast, ebenso wie die Bäume am Straßenrand und die wenigen Wolken am Himmel.

Ciaran sitzt locker am Steuer. Er hat das Fenster ein wenig geöffnet und der Fahrtwind spielt mit seinen Haaren.

„Wenn's zieht, sagst du's, ja?“, fragt er und schaut kurz zu mir.

„Ja ja“, sage ich und schaue aus dem Fenster. Der Wind weht mir seinen Geruch in die Nase, nach Minze, wie sein Auto. Oder riecht das Auto nach ihm?

„Ich mach ein bisschen Musik an, ja?“, fragt er und als ich einen zustimmenden Laut von mir gebe, drückt er auf einen Knopf und leise Klavierklänge erfüllen den Innenraum des Mercedes. Das habe ich nicht erwartet. So ein Typ wie er, so dachte ich, würde doch eher Rock, Pop oder Rap hören. Auf jeden Fall nicht so was, wobei ich damit überhaupt keine Probleme habe.

„So, nutzen wir doch die Zeit, um uns etwas näher kennenzulernen“, schlage ich vor. „Was ist deine Lieblingsfarbe?“

Er lacht leise, bevor er antwortet: „Grün.“

„Warum?“

„Grün wie die Natur, grün wie das Leben, grün wie die Hoffnung.“

„Und grün wie deine Augen“, ergänze ich und er lacht. Ich mag es, wenn er lacht. Es klingt jedes Mal wie ein Sommerwind. „Und dein Lieblingstier?“

„Gepard.“

„Wieso?“

„Er ist der schnellste Kurzstreckenläufer und außerdem anmutig und elegant. Es ist ein schönes Tier“, antwortet er mit rauer Stimme, die von Andacht zeugt.

Ich schweige einige Sekunden. Ciaran sieht mich nicht an, um zu sehen, wie ich reagiere, sondern hält seinen Blick fest auf der Straße. „Und was ist mit Lieblingsbuch? Oder Autor?“, frage ich schließlich.

„Lesen tue ich eigentlich nicht so viel, aber ein ziemlich gutes Buch, das ich mal gelesen habe war 'Rot wie das Meer' von Maggie Stiefvater. Ich hab's natürlich auf deutsch gelesen und nicht auf englisch.“ Nun wirft er mir doch einen Blick zu. Seine Augen funkeln belustigt. „Oder 'Wolfsblut' von Jack London.“

„Und wie sieht's aus mit...“

„Jetzt bin ich erst mal dran“, unterbricht er mich und so verbringen wir die Fahrt mit Fragenstellen und -beantworten. Wir fahren durch Wald, zwischen Feldern und durch Dörfer, bis Ciaran den Wagen schließlich auf einen gepflasterten Parkplatz vor einem orange gestrichenen Holzhaus mit blauen Fensterrahmen parkt. Im Vorgarten gibt es nur Sträucher, Rasen und Bäume, also keine Pflanzen, um die man sich übermäßig kümmern müsste. Vom Gartentor führt ein gepflasterter Weg zur Haustür. Ciaran stellt den Motor aus und zieht den Schlüssel ab. Sowohl Motorengeräusch als auch Klaviermusik verklingen.

„Und, wie findest du's?“, fragt er in die Stille hinein.

„Das Haus?“, frage ich. Er nickt. „Es ist hübsch“, antworte ich.

Er steigt aus und schlägt die Tür hinter sich zu. Der Minzgeruch wird schwächer. Ciaran holt den Rollstuhl aus dem Kofferraum und kommt an meine Tür. Ich mache sie auf und er stellt den Rollstuhl aufgeklappt daneben. Schließlich macht er noch den Wadengurt fest und richtet sich wieder auf. Ich könnte ihm sagen, dass ich in einem so niedrigen Auto vielleicht auch selbst an die Armlehnen käme und mich selbst in den Stuhl ziehen könnte. Thomas und Sabine haben einen großen VW Multivan, weshalb ich da viel zu hoch sitze, um an die Lehnen zu kommen, aber hier könnte es funktionieren. Ich erzähle es ihm aus unerfindlichen Gründen nicht. So schiebt er wieder einen Arm unter meine Knie und einen hinter meinen Rücken. Im Multivan muss ich nie den Kopf einziehen, um ihn mir nicht zu stoßen. Er sagt so etwas wie „Vorsicht, Kopf“, aber irgendwie nehme ich es nicht wirklich wahr. Viel zu sehr ist meine Aufmerksamkeit von seiner Berührung gefesselt. Bis mir ein Schmerz durch den Kopf fährt und ich kurz erschrocken aufkeuche. Jetzt ziehe ich ihn natürlich ein und Ciaran kann mich rausheben. „Ach Alice, ich hab dir doch gesagt, dass du den Kopf einziehen sollst“, meint er, „geht's?“ Er streckt seine Hand aus und berührt mein Haar an der angestoßenen Stelle. Ich halte ganz still und merke erst, als er die Hand wieder wegnimmt, dass ich auch die Luft angehalten habe.

„Ja, geht schon“, antworte ich und versuche, zu lächeln.

„Wir können ja gleich was Kühles drauflegen“, meint er, macht die Autotür zu und sperrt ab. Dann schiebt er mich zum Haus. Er schließt die Tür auf und lässt mich reinfahren. Ich komme gar nicht dazu, mich umzusehen, denn schon kommt mir ein riesiges, graues Vieh entgegen. Es ist so groß, dass ich mich überhaupt nicht bücken muss, um den Hund zu streicheln. Er legt seinen Kopf in meinen Schoß und wedelt mit dem Schwanz. Ich kann nicht anders, als ihm immer und immer wieder durch das weiche Fell zu streichen.

„Hannes scheint dich zu mögen“, meint Ciaran, legt die Schlüssel auf eine Komode und geht durch den Flur und durch eine andere Tür. Nun scheint Hannes bemerkt zu haben, dass sein Herrchen auch da ist, denn er läuft ihm schnell hinterher. Ich komme ebenfalls nach.

Der Raum entpuppt sich als Küche. Ciaran steht an der offenen Balkontür und pfeift. Dann dreht er sich wieder um und lächelt.

„Wie geht's deinem Kopf?“, fragt er. „Ich hole dir was zum Kühlen.“

Er geht zum Kühlschrank, macht ihn auf und hockt sich davor. Dann kramt er kurz, steht wieder auf und macht die Tür wieder zu. Er hält mir eine halb vereiste Tüte hin.

„Tiefkühlpommes?“, frage ich belustigt.

„Das ist das einzige, was ich zum Kühlen da habe“, meint er schulterzuckend. Ich nehme die Tüte und halte sie mir an den noch immer ein bisschen schmerzenden Hinterkopf.

„Gut, dann gehe ich eben einen Rucksack holen, wo ich die Lebensmittel rein tun kann“, erklärt er und verschwindet aus der Zimmertür. Ich rolle zur Terrassentür und schaue hinaus. Man kann den Wald sehen und Felder und Wiesen. Wo der Himmel anfängt, verunstalten nur fünf Windkraftwerke den Ausblick.

Plötzlich springt mir etwas auf den Schoß. Ich schaue hinunter. Es ist eine Katze. Ihr Fell ist wunderschön. Es ist schwarz-weiß-getigert, in das sich kupferrot mischt. Ihre Augen sind grün, wie Ciarans. Um das eine hat sie kupferne Punkte. Sie kuschelt sich in meinen Schoß und ich streichele sie, woraufhin sie wohlig schnurrt.

„Na?“, flüstere ich. „Wer bist du denn?“

„Das ist Mia.“

Ich werfe einen Blick über die Schulter. Ciaran ist zurück. Er hat einen schwarzen Rucksack in der Hand, in den er allerlei Zeug packt.

„Ich wünschte, ich hätte auch Haustiere“, sage ich und drehe mich wieder um.

„Wieso hast du keine?“, fragt Ciaran.

„Sabine hat eine Allergie gegen alles, was Fell hat.“

„Oh, Schade. Aber du kannst uns jederzeit besuchen. Marie würde Hannes und Mia bestimmt auch gerne kennenlernen.“

„Ja, das denke ich auch“, sage ich gedankenverloren und starre nach draußen. Irgendwann tritt er hinter mich und legt mir eine Hand auf die Schulter.

„Wie geht's deinem Kopf?“, fragt er noch einmal.

„Besser, danke“, antworte ich und gebe ihm die Pommestüte zurück. Er packt sie wieder in den Kühlschrank und kommt wieder zurück.

„Willst du mein Zimmer sehen?“, fragt er schließlich.

„Ja gerne“, sage ich, „wenn ich da hinkomme.“

„Ja, also es ist eigentlich im Keller, aber wir können außenrum gehen“, meint er. „Mia kann sogar liegen bleiben.“

Dann schiebt er mich zur Haustür hinaus und über einen kleinen Weg am Haus entlang bergab in den Hintergarten. Dort befindet sich eine Tür in der Wand, auf die er zusteuert und die er aufschließt. Im Innern ist es nicht sehr hell, weil vor den Fenstern schwarze Vorhänge hängen, die nur wenig Licht durchlassen. Er macht sie alle auf, sodass es hell wird. In der einen Ecke steht ein großes, mit schwarzer Bettwäsche bezogenes Bett. Vor einem Fenster steht ein großer Schreibtisch mit einem Computer. An den Wänden stehen Komoden und Regale mit ein paar Büchern, aber hauptsächlich CDs. An einer Wand steht ein sehr alt aussehendes Klavier. Es ist aus dunklem Holz und mit vielen Mustern verziert. Außerdem hat es zwei silberfarbene Kerzenhalter aus Messing. Die Tasten sind schon etwas gelblich und der Klavierhocker ist aus dem gleichen Holz wie das Musikinstrument selbst. Daneben steht ein Cello. Die Färbung ist wunderschön, mal hell, mal dunkel. Auf dem Klavier liegt der dazugehörige Bogen.

„Du spielst Cello und Klavier?“, frage ich beeindruckt.

„Und Gitarre“, nickt er

Ich drehe mich zu ihm um. Er steht am Fenster und das Sonnenlicht lässt seine grünen Augen strahlen. „Spielst du mir was vor?“

Er lächelt. Dann geht er zum Klavier und nimmt den Bogen. „Zuerst muss der Bogen gespannt werden“, erklärt er und dreht an einem kleinen Rädchen am Ende des Stabes. Die Haare werden dadurch gespannt. „Dann reibe ich ihn mit Kolophonium ein.“ Er nimmt aus einer Dose ein rundes Stück, das wie Harz aussieht, und streicht mit dem Bogen mehrmals darüber. Dann nimmt er das Cello und setzt sich auf den Klavierhocker. „Die Höhe des Stachels ist schon eingestellt, weshalb ich das nicht mehr machen muss. Ich habe es gestern erst gestimmt, das muss ich also auch nicht mehr machen.“ Dann lehnt er das Instrument an seine Brust, legt die linken Finger an Hals und den Bogen in die rechte Hand. Es sieht aus, als würde er ihm gleich aus der Hand fallen. Er legt den Bogen auf die Saiten und streicht ihn. Die Töne, die erklingen, sind wunderschön, formen sich zu einer ebenso schönen Melodie. Sie erfüllen den Raum, füllen ihn aus. Sie jagen mir eine Gänsehaut über den Körper, besonders die tiefen, und lassen mich frösteln, so schön sind sie. Ciaran schließlich die Augen und spielt blind, so gut kennt er sein Instrument. Man sieht ihm an, dass er in der Musik aufgeht, dass er mitfühlt. Ich kann seine Gefühle spüren, die Atmosphäre. Die Melodie ist traurig. Sie lässt mich an Vergangenes denken. An meine Eltern, an den Unfall. Mein Herz schmerzt bei den Erinnerungen. Mit treten Tränen in die Augen. Ich presse meine Zähne aufeinander.

Wie wäre alles anders gewesen, wenn sie nicht gestorben wären, wenn wir keinen Unfall gehabt hätten, wenn ich bei ihnen aufgewachsen wäre. Wie wäre alles anders gewesen. Ich hätte laufen können. Ich hätte vielleicht ein Haustier haben können. Ich wäre noch zu Hause bei meinen Freunden. Ich wäre wahrscheinlich nie umgezogen. Und ich hätte Ciaran nie getroffen.

Ja, wie wäre alles anders gewesen.

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