Kapitel 33

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„Das heißt, es gibt eine greifbare Chance, dass du wieder wirst laufen können?", fragt er aufgeregt.
„Ja", bestätige ich, „die gibt es."
„Alice, das ist der absolute Wahnsinn!" Ole ist ganz aus dem Häuschen und springt von seinem Stuhl auf. Ich sehe zu Ciaran. Er betrachtet mich lächelnd und ich muss es erwidern. Seine Augen strahlten und sein Blick ist wie ich mich fühle: überglücklich.
„Ja. Der Arzt hat mir auch eine Therapie in einer Reha-Klinik verschrieben", erzähle ich. „Jede Woche soll ich zwei Mal dort hin."
Ole setzt sich wieder hin. „Das sind wirklich super Aussichten", meint er zufrieden. Es rührt mich, dass ihm mein Schicksal so wichtig ist. Sabine meinte, wir sollten die Neuigkeiten feiern und hat alle Bekannten, die in der Nähe wohnen, zum Grillen eingeladen. Ich habe nichts dagegen.
„Ja, dann können wir endlich richtige Shopping-Touren machen", lacht Finnie.
„Die Würtschen sind fertig", ruft Thomas und nimmt den erstbesten Teller vom Tisch. Es ist Oles. Mit einer köstlich aussehenden Wurst reicht er ihn zurück und er gibt ihn weiter bis er schließlich bei mir landet. Volle und leere Teller werden herumgereicht, bis jeder eine Wust vor sich hat. Es gibt Kartoffelsalat und Tina hat einen Nudelsalat gemacht. Es ist noch hell draußen, als wir mit Essen fertig sind. Anschließend setzen wir uns alle um das Feuer herum. Ciaran sitzt neben mir und ich greife nach seiner Hand. Er schenkt mir ein verblüfftes Lächeln und drückt sie dann. Er lässt sie den ganzen Abend nicht mehr los. Wo sitzen und reden wir über dies und das, während Amelie und Marie zusammen spielen und Ciaran seine Hand mit meiner verschränkt hat, bis es schließlich doch dunkel wird. Irgendwann fährt Ole mit seiner Familie wieder nach Hause, weil Amelie müde ist und Marie verschwindet in ihr Zimmer. Finnie übernachtete heute bei mir. Wir anderen bleiben so lange am Feuer, bis das Holz, das Thomas bereitgelegt hat, aufgebraucht ist. Natürlich hätte er auch neues holen können, aber wir sind uns einig, dass es spät genug ist. Während Thomas, Sabine und Finnie den Grillplatz aufräumen, bringe ich Ciaran zu seinem Auto. Er hat angeboten, mitzuhelfen, aber Sabine meinte, das sei nicht nötig und zwinkerte mir zu. Und so schiebt Ciaran mich um das Haus herum zum vorderen Teil unseres Gartens. Ich lege meinen Kopf in den Nacken.
„Sieh mal, das wunderschöne Sternenzelt", sage ich leise. Ciaran blickt nach oben, dann senkt er den Kopf wieder.
„Allerdings", flüstert er und lächelt. Ich habe den Eindruck, dass seine Augen mindestens genauso hell strahlen wie die Sterne. Mein Herz geht auf und ein warmes Gefühl durchflutet meinen Körper. Ich lächele. Er beugt sich zu mir und küsst mich umständlich, schließlich kommt er von meinem Rücken. Dann hockt er sich vor mich und ich beuge mich vor, damit sich unsere Lippen erneut begegnen. Alles in mir beginnt zu kribbeln und ich lege meine Hand an seinen Hinterkopf, um ihn noch näher zu mir zu ziehen. Er stöhnt lustvoll auf und ich muss lächeln. Er schlingt seine Arme um mich und drückt mich fest an sich, was gar nicht so einfach ist, wenn ich im Rollstuhl sitze. Schließlich steht er auf, lässt aber seine Arme um mich, sodass ich meinen Kopf an seinen Bauch betten kann.
„Du bist unglaublich, Alice", flüstert er heiser, zum Teil liebevoll, aber zum Teil auch unglaublich ernst. Und noch leiser fügt er hinzu: „Ich liebe dich."
Ich drücke ihn fest an mich. „Ich dich auch", flüstere ich ebenso leise.
Irgendwann lässt er mich los und drückt mir einen letzten Kuss auf die Stirn. „Gute Nacht, Alice."
„Gute Nacht, Ciaran."
Er geht zu seinem Auto, steigt ein und fährt davon. Da seine Arme nun fort sind, ist die kühle Nachtluft plötzlich viel zu nah, aber innerlich glüht mein Herz noch immer voller Liebe.

Wir müssen uns ziemlich lange verabschiedet haben, denn Thomas, Sabine und Finnie haben schon alles aufgeräumt und unsere Schlafsachen nach draußen auf die Veranda gelegt. Finnie und ich wollen heute draußen schlafen.
„Na, ihr habt euch aber lange verabschiedet", meint Finnie grinsend, als ich mich zu ihr geselle. Ich lächele nur. Wir machen uns schnell fertig und legen uns dann nach draußen. Thomas und Sabine wünschen uns eine gute Nacht und gehen selbst schlafen.
„Ist das... ist das für dich in Ordnung?", frage ich vorsichtig.
„Was meinst du?", fragt Finnie, schon fast im Schlaf.
„Das mit Ciaran und mir, weil du doch auch mal..."
Sie seufzt. „Ach, Alice. Zuerst als du an die Schule kamst, war ich schon eifersüchtig", gibt sie zu.
„Aber am Anfang waren wir doch noch gar nicht zusammen", bemerke ich verwirrt.
„Ja, aber er hat dich immer so angesehen, und zwar von Anfang an. Es konnte gar nicht anders kommen. Aber wie dem auch sei, dann habe ich ja Leonard kennen gelernt und glaub mich, ich freue mich für dich. Wer kann das denn besser nachvollziehen, als ich, hm?"
Ich muss lächeln. „Ja, vermutlich keiner. Danke."
„Bitte, und jetzt will ich endlich schlafen. Gute Nacht."
„Gute Nacht", sage ich leise und horche in mich hinein. Die Nacht ist friedlich und das Gefühl, das Ciaran in mir hinterlassen hat, noch nicht verflogen. Vielleicht wird es auch nie verschwinden, weil Liebe solch tiefe Spuren hinterlässt, aber in dem Moment will ich an nichts anderes denken, als an ihn und daran, wie unglaublich glücklich ich bin.

Zwei Tage später steht plötzlich Ciaran vor meine Haustür und hält eine große Tasche hoch, als ich öffne.
„Hallo", begrüße ich ihn, aber alles woran ich denken kann, ist, wie sehr ich ihn in den letzten Tagen vermisst habe. Das ist schon fast beängstigend.
„Hi", grinst er und gibt mir einen kurzen Kuss. „Zieh dir anständige Schuhe an und nimm eine Jacke mit, wir machen einen Ausflug."
Ich stelle überhaupt nichts in Frage, rolle zum Schuhschrank und ziehe mir Socken und Turnschuhe an. Anschließend nehme ich mir meine leichte Sommerjacke und sage Sabine bescheid.
„Also", erklärt Ciaran, „das sind Rollschuhe." Er deutet auf die große Tasche und packt ein Paar Inline Skaters aus, die er sich anzieht.
„Und ich dachte schon, ich müsste die anziehen", lache ich.
„Nein, das nicht, aber du kriegst was viel besseres." Er steht auf, fährt ein paar Proberunden und kommt wieder zu mir. „Kann's losgehen?"
Ich nicke. Er stellt sich hinter mich und schiebt mich an, indem er losfährt. Bald haben wir ein ganz schönes Tempo aufgebaut, auch wenn er es nicht übertreibt, und ich jubele laut. Der Fahrtwind wirbelt mein Haar durcheinander und kühlt meine Haut. Die Jacke muss ich trotzdem nicht anziehen.
„Hab ich nicht gesagt, das macht Spaß?", fragt Ciaran und ich bejahe ehrlich. Ich schließe die Augen und entspanne vollkommen.

Viel zu schnell sind wir in der Stadt.
„Ich lade dich zum Eis essen ein", meint Ciaran und fährt zu einem Eiscafé. Er schiebt mich an einen Tisch und lässt sich selbst mir gegenüber auf einem Stuhl nieder. „Autsch, sei froh, dass du nicht auf so einem Stuhl sitzen musst, die sind ganz schön heiß." So schlimm scheint es allerdings nicht zu sein, denn er lächelt noch. Die Kellnerin kommt und nimmt unsere Bestellung auf. Wenige Minuten bringt sie mir ein Spaghetti-Eis und Ciaran einen blonden Engel mit Vanilleeis, Orangensaft und Sahne. Das Eis kühlt wunderbar von innen. Dummerweise lassen auch die Bienen nicht lange auf sich warten.
„Pass auf", waren ich, als eine um Ciarans Becher herumschwirrt. „Die scheint dich ja zu mögen", lache ich. Dann setzt sich die Biene jedoch auf seine zum Glück geschlossenen Lippen und ich reiße erschrocken die Augen auf. Unerträglich lange sitzt das Insekt auf seiner Lippe, bis es endlich davonfliegt. Erleichtert lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. Ciaran grinst.
„Was ist?", fragt er. „Die Biene war doch ganz harmlos."
„Ja klar", sage ich trocken.
„Wenn man sie nicht reizt, tun sie einem auch nichts."
„Egal, sie ist weg, und das ist gut so", bestimme ich und wende mich wieder meinem Eis zu. Ich muss an gestern Abend denken, an seine Augen und seinen Kuss, und plötzlich kommt mir ein Gedanke.
„Ciaran, ich will weder dir noch mir etwas vormachen. Selbst wenn sich meine Lähmung auf dem Weg der Besserung befindet, kann es trotzdem noch Jahre dauern, bis ich wieder laufen kann." Ich stocke. Allein die Vorstellung, dass ich laufen können soll, ist vollkommen absurd und kommt mir irgendwie sehr weit hergeholt vor.
„Das ist mir schon bewusst", meint Ciaran und lächelt leise.
„Na ja", fahre ich fort, „und du..." Ich habe keine Ahnung, wie ich das jetzt sagen soll. „Du bist ein Mensch und du hast... Bedürfnisse, die ich... Ich... Ich kann dir nicht alles geben, was du verdienst."
„Doch, das kannst du", beteuert er sofort. Ich sehe ihn scharf an. „Ich..." Er grinst verlegen. „Sagen wir mal so, ich habe mich erkundigt und viel darüber gelesen." Er deutet auf den Tisch, unter dem sich meine Beine befinden. „Also mach dir keine Sorgen, wir kriegen das schon hin."
„Ciaran", zische ich und sehe mich gleichzeitig um, um zu schauen, ob uns jemand zuhört, „ich... Ich rede von Sex."
„Ich auch." Sein Grinsen wird noch breiter. „Und außerdem", nun wird er wieder ernster, „ist mir das doch egal, ob du das kannst oder nicht. Darum geht es doch gar nicht. Alles, was ich von dir brauche, ist deine Liebe, und die hast du mir bereits geschenkt und wirst es auch im Rollstuhl können. Und falls du meinst, ich würde dich einmal nicht mehr lieben, weil ich... wie hast du es ausgedrückt? Ach ja... menschliche Bedürfnisse habe, die du nicht erfüllen kannst, mach dir deshalb keine Sorgen. Ich habe mich schließlich in dich verliebt und nicht in deinen Körper. Die Alice, die ich liebe, sitzt nun mal im Moment im Rollstuhl." Damit schiebt er sein Glas zur Seite, beugt sich vor und küsst mich. Anschließend schiebt er sich meinen Löffel in den Mund und sagt: „Hm, nicht schlecht."
Ich gebe ihm einen Klaps auf die Schulter und er lehnt sich lachend wieder zurück. Als wir beide fertig sind, bezahlt Ciaran und wir machen uns auf den Rückweg. Leider kann Ciaran nicht länger bleiben, weil er noch was zu tun hat, aber als Entschädigung verabschiedet er sich mit einem langen Kuss von mir. Es ist gerade mal drei Uhr. Was soll ich bloß mit dem Rest meiner Zeit anfangen? Ich kann nichts dagegen tun, aber ich vermisse Ciaran jetzt schon.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now