Kapitel 7

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An diesem Morgen geht alles schief. Das wusste ich schon aus irgendeinem Grund beim Aufstehen und das Gefühl bleibt noch immer. Zudem bin ich heute ausgesprochen müde, weil ich durch die Aufregung, im negativen Sinne, vor dem heutigen Schultag nicht gut schlafen konnte. Außerdem haben wir heute alle verschlafen, weil keiner daran gedacht hat, einen Wecker zu stellen.

Die einzigen Dinge in meinem Zimmer sind bis jetzt mein Bett, der Schreibtisch und die Badutensilien. Als ich meine Morgentoilette verrichten möchte, rutsche ich plötzlich mit meiner Hand ab, weil ich sie aus Unachtsamkeit nicht richtig platziert habe, und knicke sie mir um. Beim Haarekämmen reiße ich mir durch die Hektik mehrere Haare aus und dann fahre ich auch noch gegen meine geschlossene Zimmertür. Als ich mir beim Frühstück auch noch die Finger verbrenne, frage ich mich schon wirklich langsam, was los ist. Mein Bus ist natürlich schon weg, also muss Thomas Marie und mich zur Schule fahren, wobei er mich im Auto darauf hinweist, dass ich mein Oberteil falsch herum anhabe. Ich wechsele es im Auto, wobei ich mich fast verrenke. An meiner Schule kommen wir zuerst vorbei. Thomas hält vor dem Schultor und steigt aus, um den Rollstuhl zu holen. Dann hebt er mich aus dem Auto hinein und legt mir meine Schultasche auf den Schoß. Er wünscht mir einen schönen Tag und auch Marie winkt mir zu, bevor sie weiterfahren. Ich rolle so schnell wie möglich durch das Tor und auf die Eingangstür zu. Wie es aussieht, hat es schon geklingelt, weshalb ich mich noch mehr beeile. Dummerweise achte ich dabei nicht auf meine Schultasche. Durch den unebenen Boden rutscht sie mir Stück für Stück von den Knien, bis sie schließlich auf dem Fußboden landet. Das wäre ja nicht so schlimm gewesen, wenn sie nicht offen gewesen wäre. Sowohl Bücher und Hefte also auch Stifte verstreuen sich quer über das Pflaster. Ich weiß jetzt schon, dass ich keine Chance habe, an sie ranzukommen. Trotzdem beuge ich mich vor, strecke meinen Arm danach aus und versuche, meinen Füller zu ergreifen, aber es hat keinen Sinn.

Plötzlich ist da ein Arm, auf dem ein beeindruckendes Tatoo prangt. Verschnörkelte Linien, die sich bis zur Armbeuge und zum Handgelenk ziehen. Der Arm ist muskulös und man kann die Adern beobachten, wie sie mal deutlicher werden und mal kaum zu sehen sind. Außerdem sind mehrere Lederbändchen um das Handgelenk geschlungen und silberne Ringe mit Motiven wie Totenköpfen zieren die Finger. Die Finger, die nun meinen Füller aufheben und mir helfen, meine Schulsachen einzusammeln. Ich nehme meinen Rucksack und stopfe alles hinein, was er mir gibt, denn es ist ein Junge, beziehungsweise junger Mann, der sich vor mich hingekniet hat, um mir zu helfen, obwohl er mindestens genauso spät dran ist wie ich. Ich kann meinen Blick nicht von dem schwarzen Haar abwenden, das ihm immer wieder ins Gesicht fällt und seine Augen verdeckt, oder von der ledernen Kette, dessen Anhänger unter seinem schwarzen Shirt verborgen ist, welches sich über seiner muskulösen Bust spannt.

Als sich alles wieder wohl verstaut in meiner Tasche befindet, richtet er sich zu seiner vollen Größe auf und streicht seine Haare hinter die Ohren, sodass ich in seine Augen sehen kann. Sie sind von einem unwahrscheinlich intensiven Grün, mit ein paar helleren und ein paar dunkleren Sprenklern, und fesseln mich sofort. Sein Gesicht ist kantig und scharf, seine Brauen schön geschwungen. Lange, schwarze Wimpern umrahmen seine Augen, die mich unaufhaltsam mustern.

Als ich merke, dass ich ihn anstarre, blinzele ich und stottere: „Also, äh, danke, dass du mir geholfen hast. Du hast ja gesehen, ich hätte es nie alleine geschafft. Ich hätte mich wenn dann auf den Boden setzten müssen, aber dann wäre ich nicht mehr hochgekommen und...“ Ich rede nur noch Blödsinn und würde mich dafür am liebsten selbst ohrfeigen.

Doch ihn scheint es nicht zu stören. Er streckt seine Hand aus und lächelt. „Ich bin Ciaran“, sagt er mit warmer, weicher Stimme, die in meinen Ohren wie Musik klingt.

Ich nehme seine Hand. Sie ist warm und weich. Nur das kalte Metall der Ringe unterbrechen das, schaffen aber gleichzeitig einen guten Kontrast. „Ich bin Alice“, sage ich.

„Ich hab dich noch nicht hier gesehen“, sagt er und stellt sich wie selbstverständlich hinter mich.

„Ja, ich bin neu. Meine Familie ist wegen der Arbeit hier hergezogen“, antworte ich um einen möglichst lockeren Tonfall bemüht.

Ciaran schiebt mich bis zum Eingang. „Du musst die Tür aufmachen. Ich komm von hier aus nicht dran“, meint er.

Wenn wir zu fünft waren, hatte immer einer die Tür aufgehalten, bis alle durch waren. Ich habe keine Ahnung, ob das funktioniert. Trotzdem strecke ich mich nach dem Griff aus und versuche, die schwere Tür aufzuziehen. Es gelingt mir, bis ich mir selbst im Weg stehe. Ciaran zieht mich zurück, sodass ich den Flügel nun ganz öffnen kann. Dann schiebt er mich hindurch. Wir müssen noch eine weitere Tür überwältigen, bis wir uns im großen Flur der Schule befinden. Ciaran schiebt mich hindurch und bleibt vor den ersten Stufen der großen Treppe stehen.

„Du brauchst einen Fahrstuhl, oder?“, fragt er, mehr zu sich selbst.

Trotzdem antworte ich: „Wäre schon ganz praktisch, ja.“

Er lacht und dreht wieder um. Wir gelangen durch einen ganz anderen Flur zur so genannten Hausmeisterloge, wo wir einen Schlüssel für den Aufzug erwerben. Als ich Ciaran frage, warum man einen Schlüssel braucht, sagt er: „Damit nicht alle Schüler damit fahren. Der Aufzug braucht viel länger, als wenn man zu Fuß geht.“

Als wir schließlich vor dem Aufzug stehen und er den Schlüssel in ein Schlüsselloch neben den Türen steckt, fragt er mich: „In welchen Raum musst du?“

Ich fische einen Zettel aus meiner Jackentasche und falte ihn auf. Darauf ist mein Stundenplan mit allen Fächern, Räumen und Uhrzeiten. „Raum 213“, sage ich.

„Okay, dass heißt, du musst in den zweiten Stock. Ich auch.“

Die Stahltüren des Aufzugs öffnen sich und er schiebt mich hinein.

„Gut, ich nehme an, du weißt, wie man Aufzug fährt?“

„Ja.“ Was für eine dämliche Frage.

„Gut, dann sehen wir uns oben.“

„Kommst du nicht mit?“, frage ich überrascht.

„Nein... ich mag Aufzüge nicht“, meint er unbehaglich.

„Okay“, sage ich nur und drücke die Zwei. Die Türen schließen sich, während Ciaran zu den Treppen geht.

Er wartet wirklich im zweiten Stock auf mich, was mich sehr freut. Ich rolle aus dem Fahrstuhl, dann übernimmt er wieder das Schieben, denn er weiß, wo es langgeht.

„Danke, dass du mir geholfen hast“, sage ich noch einmal.

„Hab ich doch gern gemacht“, meint er abwesend.

„Wieso?“

„Was?“

„Wieso du mir geholfen hast. Ich meine, du bekommst bestimmt einen Eintrag, weil du wegen mir zu spät bist“, erkläre ich meine Frage.

„Zu spät gewesen wäre ich sowieso. Du bist sozusagen meine Ausrede“, tut er mit einer Handbewegung grinsend ab, aber ich bin mir nicht sicher, ob das der einzige oder überhaupt ein Grund ist, oder ob sich dahinter nicht noch etwas anderes verbirgt. Da ich ihm aber nicht zu sehr auf den Zahn fühlen will, frage ich nicht weiter. Schließlich kennen wir uns gerade mal fünf Minuten.

Schließlich stehen wir vor einer Tür, wo ein Schild, das nebendran hängt, die Raumnummer 213 verkündet.

„Ich glaube, jetzt komme ich alleine klar“, sage ich.

„Okay. Wir sehen uns“, sagt Ciaran, dreht sich um und geht. Ich sehe ihm nach, bis er um eine Ecke verschwindet.

Dann wende ich mich wieder der Tür zu, atme tief ein und klopfe. Nach wenigen Sekunden ruft eine männliche Stimme: „Herein!“

Ich drücke die Klinke und die Tür schwingt auf.

-Hallo Leseratten,
Was denkt ihr? Ich würde mich wie immer über Kommentare und Votes freuen. Viel Spaß beim Lesen!

Euer readerbunny01-

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteUnde poveștirile trăiesc. Descoperă acum