Kapitel 40

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Während wir uns an das neue Schuljahr und besonders an das Oberstufensystem gewöhnen, vergeht die Zeit wie im Flug. Gestern wollte Ciaran Grace fragen, ob sie am Samstag Zeit hätte, mit Finnie und mir für die Hochzeit von Ellis Eltern shoppen zu gehen. Doch als ich heute zu unserem Treffpunkt komme, ist er nicht allein. Zayne steht bei ihm und scheint auf ihn einzureden. Anders als sonst scheint Ciaran sein Selbstbewusstsein vollständig verloren zu haben, was mich nur mehr beunruhigt. Als Zayne mich sieht, kommt er mir sofort entgegen. Seit den Ferien ist seine Nase krumm, aber er wollte keinem erzählen, was er gemacht hat. Überhaupt hat er sich in letzter Zeit eher ruhig verhalten, weshalb es mich noch mehr verwundert, ihn nun hier zu treffen.
„Dieser Typ ist nicht der, für den du ihn hälst, Alice", sagt er aufgebracht. „Er verschlägt andere, ist aggressiv und nimmt sogar Drogen, du solltest dich wirklich von ihm fernhalten." Er zeigt auf seine krumme Nase.
Das erste, das mir einfällt, ist, dass diese Aktion nicht zu dem Bild passt, das ich von Zayne habe. Der Zayne, den ich kenne, würde sich niemals um mich sorgen. Das zweite, an das ich denke, ist, dass er meint, Ciaran hätte ihm die krumme Nase verpasst. Und erst dann frage ich mich, woher er weiß, dass Ciaran drogenabhängig ist. Mein Blick wandert zu ihm, der an der Wand lehnt und ganz und gar nicht glücklich aussieht.
„Ich kann ihn von dir fernhalten. Zur Not kann ich ihn auch anzeigen. Wegen Körperverletzung und Drogenmissbrauchs."
Nur schwer kann ich meinen Blick von meinem Freund lösen und Zayne wieder anschauen. „Woher weißt du das?" Es hätte sicher schlauere Kommentare gewesen, aber in diesem Moment ist es das, was mir zuerst einfällt und was mich interessiert.
„Ich hab ihn gesehen, wie er das Zeug... Moment mal, du bist gar nicht überrascht. Heißt das, du wusstest die ganze Zeit davon?" Er reißt seine Augen auf und ich muss gar nicht mehr antworten. „Du wusstest die ganze Zeit davon und bist trotzdem mit ihm zusammen? Wie doof kann man eigentlich sein! Er ist gemeingefährlich! Oder nimmst du sogar selbst Drogen?"
„Hey", Ciaran packt ihn am Arm, „wage es ja nicht, sie zu beleidigen." Seine Stimme ist ruhig, aber dennoch durchdringend, ganz so wie ich Ciaran kenne.
„Ihr seid beide so was von am Ende", meint Zayne. „Meine Mutter war auch drogenabhängig. Sie war sogar in einer Klinik und hat's nicht gepackt. Also Alice, ich weiß ja nicht, wie tief du schon drinsteckst, aber hör bloß auf damit." Damit dreht er sich um und geht. Ich bleibe völlig verstört zurück. Was war das eben?
Ich schaue zu Ciaran. Er sieht mich unsicher an.
„Willst du mich nicht begrüßen?", frage ich ihn. Er stößt sich von der Wand ab und kommt zu mir, um mich zu küssen.
„Tut mir leid", flüstert er.
„Was?"
„Alles. Grace hat Zeit am Samstag. Sie kommt dich um halb Elf holen und dann fahrt ihr zu Finnie." Auch wenn er so schnell das Thema wechselt, weiß ich dennoch, dass es ihm eigentlich sehr nahe geht.
„Okay, super." Der Vorfall mit Zayne könnte damit vergessen sein, aber immer wieder wirft er mir während des Unterrichts eindringliche Blicke zu. Er denkt tatsächlich, ich wäre ebenfalls süchtig. Ich weiß nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll, also ignoriere ich ihn.

Ich war bisher noch nicht oft shoppen. Bisher habe ich mich immer davor gesträubt, weil ich der Meinung war, dass das viel zu aufwändig wäre. Na ja, es ist aufwendig. Aber es ist nicht unmöglich. Wir machen auch keine lange Angelegenheit daraus. Bereits das dritte Kleid, das ich anprobiere, ist so schön, dass ich mich dafür entscheide, was nicht zuletzt auch an dem hervorragenden Einschätzungsvermögen von Grace liegt, zumindest was schöne Kleider betrifft. Das Kleid ist türkisfarben und reicht mir bis kurz unter die Knie. Im Brustbereich ist es gerafft und in der Mitte mit einer glitzernden Brosche versehen. Außerdem hat es keine Ärmel. Den ganzen Nachmittag verbringen Finnie, Grace und ich in irgendwelchen Geschäften und natürlich in der Eisdiele. Allerdings bin ich trotzdem am Abend schon relativ früh zu Hause. Ich nehme mir das Telefon und rufe Ole an. Das habe ich mir schon die letzten Tage vorgenommen, bin aber noch nicht dazu gekommen. Während ich dem regelmäßigen Tuten zuhöre, tippe ich ungeduldig mit meinen Fingern auf meinem Bein herum.
„Ole Weber, hallo?", meldet er sich schließlich.
„Hallo, Ole, hier ist Alice", begrüße ich ihn.
„Ah, hallo, Alice! Was kann ich für dich tun?"
„Ich rufe wegen Ciaran an. Du behandelst ihn doch noch, oder?"
Ole schweigt einen Moment. „Ja, wieso?"
„Ich wollte mich erkundigen, wie es so läuft."
Wieder Schweigen. Dann seufzt er. „Das sollten wir nicht am Telefon klären. Normalerweise darf ich dir ja keine Informationen geben, egal zu welchem Patienten, aber in diesem Fall finde ich wirklich, dass du es wissen solltest. Aber nicht am Telefon. Hast du morgen Zeit?"
Ein beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit und schnürt mir die Kehle zu. „Aber erst abends."
„Okay, kannst du um sieben kommen? Kannst auch bei uns essen."
„Ja." Ich bin so unsicher, was ich davon halten soll, dass meine Antwort eher wie eine Frage klingt.
„Alles klar. Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das hin."
Ich würde am liebsten laut Was denn? schreien, aber stattdessen flüstere ich nur ein leises „Okay" und lege auf, nachdem wir uns verabschiedet haben.
Mach dir keine Sorgen. Das will ich gefälligst selbst entscheiden, wenn ich weiß, was Sache ist.

Was ich ebenfalls schade finde ist, dass ich nicht mehr so viel Zeit für Marie habe. An diesem Abend jedoch können wir uns endlich mal wieder zusammensetzen und ein Spiel spielen, auch wenn ich mit meinen Gedanken leider oft ganz woanders bin. Wir spielen Phase 10, ein Spiel, das Marie momentan am liebsten den ganzen Tag spielen würde. Wir holen uns Chips und Limonade und lassen es uns so richtig gut gehen. Und irgendwann kann ich meine Sorgen sogar vergessen, während es draußen immer dunkler wird und die Dunkelheit uns vom Rest der Welt abschirmt.

Am nächsten Tag regnet es und die schlechte Laune folgt mir bereits seit ich aufgestanden bin, obgleich ich nicht sagen kann, woher sie rührt. Es ist einer der Tage, an denen man besser zu Hause im Bett bleibt. In der Schule beginnt nun der erste Arbeitenmarathon mit einer Englischarbeit und wir bekommen in Mathe eine HÜ wieder zurück. Die ist nicht schlecht, aber auch nicht vollkommen überzeugend. Finnie ist nicht da und Ciaran ist heute so wie ich nicht sehr gesprächig. Für die Therapie am Nachmittag habe ich schon gar keine Lust und Motivation übrig und Fortschritte mache ich heute auch nicht. Am Abend würde ich mich am liebsten in meinem Bett verkriechen, aber da ist ja noch das Treffen mit Ole. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich besonders gerne verkriechen würde.
Oles Frau Tina hat zum Abendessen Brot und Rührei gemacht, was sehr gut schmeckt, auch wenn sich mein Magen jedes Mal verkrampft, wenn ich an das bevorstehende Gespräch denke. Warum will er mir das nicht am Telefon erzählen? Was ist so wichtig? Ich habe das ungute Gefühl, dass es mir nicht gefallen wird.
„Okay", meint Ole und setzt sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Ich setze mich neben ihn. Nebenan in der Küche räumt Tina den Tisch auf und Amelie ist in ihr Zimmer verschwunden, sodass wir ungestört sind. „Ich habe mit Ciaran selbst darüber nicht gesprochen und ich möchte, dass du das auch nicht tust. Ich befürchte, dass sonst seine Motivation leiden könnte."
Ich nicke.
„Okay. Also der Wille ist auf jeden Fall da. Ich glaube auch, dass das zum Teil dir zu verdanken ist, Alice. Ich bin auch kein Arzt, um es mit Bestimmtheit sagen zu können. Aber ich glaube, dass sein Körper selbst sehr stark abhängig ist, nicht nur sein Geist, verstehst du? Er reagiert auf übelste Weise auf den Entzug. Das Problem ist, dass er durch die Schule und so weiter nicht die Möglichkeit hat, die Pillen vollständig abzusetzen. Ich schaue mich aber bereits nach einer Entzugsklinik um, in die ich ihn schicken will."
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. „Aber er kann es schaffen, ja?"
Ole sieht mich an. „Ich weiß nicht, Alice. Ich bin kein Arzt."
„Aber was denkst du?"
„Er... er muss sehr stark sein, Alice. Ich weiß nicht, ob man so was durchstehen kann, und vor allem kann ich nicht sagen, ob er danach noch derselbe ist."
„Okay." Meine Stimme ist nicht mehr als ein heiseres Flüstern.
„Alice..."
„Nein, nein, ist okay. Danke, dass du es mir gesagt hast."
„Soll ich dich heimfahren?", fragt er und ich sehe ihn an.
„Nein, danke, ich rufe an."
„Aber das ist wirklich kein Problem für mich und Thomas hat dich ja schon gebracht", erwidert er.
„Nein, ich rufe an." Ich will nicht mit Ole in einem Auto sitzen. Ich will nicht mit ihm reden müssen. Ich will einfach nur nach Hause.
Ole greift nach meiner Hand. „Ich lass dich so aber nicht gehen. Es ist noch nichts verloren, und das musst du dir bewusst machen. Es hängt nun ganz viel von dir ab. Wenn du nicht an seine Heilung glaubst, hat er keine Chance, verstehst du?"
Ich nicke langsam.
„Okay, ruf an. Willst du das Telefon?" Ohne eine Antwort abzuwarten gibt er es mir.
Ich wähle die Nummer von zu Hause und sage bescheid, dass mich jemand abholen kann, als Sabine den Hörer abnimmt.
Als wir zuhause ankommen setze ich mich auf die Veranda und betrachte den Sonnenuntergang. Mehrmals bietet mir Sabine an, mir was zu trinken oder was Süßes zu bringen, und mehrmals fragt sie, was passiert sei, aber ich schüttele nur den Kopf. Ich kann und will nicht darüber sprechen, sondern nur allein sein. Irgendwann geht sie ins Bett und erinnert mich ebenfalls, dass morgen Schule ist. Mir ist das auch bewusst, jedoch weiß ich, dass ich sowieso nicht würde schlafen können, wenn ich jetzt ins Bett ginge. Bis tief in die Nacht sitze ich nur da, starre in die Dunkelheit hinaus und lasse meine Gedanken kreisen. Ich überlege, was passieren würde, wenn Ciaran den Entzug nicht schaffte. Kann man mit Drogenkonsum leben? Ich entscheide für mich, dass ich ihn dann dennoch lieben würde, schließlich liebe ich ihn jetzt ja auch. So ein Leben ist immer noch besser als ein Leben ohne ihn. Ein Leben ohne ihn kann ich mir nicht vorstellen und ich beschließe, dass ich das auch gar nicht will. Es würde nicht dazu kommen. Jetzt verstehe ich, wieso es auf mich ankommt, und ich bin bereit, alles für Ciaran zu tun.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now