Kapitel 20

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Niemand sagt mir, wo ich hingehen soll, oder ob ich irgendwas besonderes tun soll und so folge ich meiner Klasse und schaue ihr zu, wie sie das Sportfest mit den verschiedenen Aktionen meistert. Sie spielen gerade auf dem Sportplatz Fußball gegen eine andere zehnte Klasse. Die Sonne brennt heiß auf uns nieder und nur manchmal schiebt sich eine Wolke davor, um uns vor den Strahlen zu schützen. Ich bin kein großer Fan von Fußball. Wenn ich es selbst hätte spielen können, wäre es vielleicht anders gewesen. Also beschließe ich, mich auf den Weg zur Sandspringgrube zu begeben. Wenn ich ehrlich bin, ist das das einzige, worauf ich mich an diesem Tag gefreut habe. Es dauert nicht lange, bis ich Ciaran gefunden habe. Er sitzt an einem Tisch und schreibt etwas auf. Ich will nicht laut rufen, aber das ist auch nicht nötig, denn schon schaut er auf und sieht mir genau in die Augen. Seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, bevor er einem anderen Mädchen zuruft: „Hey, Jeanette! Kannst du kurz für mich übernehmen?" Und schon wird ausgetauscht. Jeanette wirft ihm ein vielsagendes Lächeln zu, doch er ignoriert es und kommt zu mir. „Schön, dass du gekommen bist!"
„Ja, die anderen spielen Fußball und jetzt ist Finnie auch auf dem Feld und dann war's so langweilig", erkläre ich mit einem gequälten Lächeln.
„Bei mir ist es auch nicht unbedingt sehr spannend. Ich darf Werte von anderen Kindern aufschreiben und auswerten", erzählt er und verdreht die Augen.
„Und, wie weit war der weiteste Sprung?"
„4,36 m."
„Ist das weit?"
„Das ist doch gar nichts. Ich springe sieben Meter."
„Echt?"
„Nein", lacht er über mein verdutztes Gesicht, „ich bin schon ewig nicht mehr gesprungen."
Wir schweigen ein paar Minuten und sehen den anderen Schülern beim Springen zu.
„Ich wollte mich noch mal wegen gestern bedanken", schneide ich schließlich das heikle Thema an, obwohl ich Angst habe, die Stimmung zu verderben. Seine Miene versteinert sich. „Wenn du nicht da gewesen wärst... ich wüsste nicht, was ich dann getan hätte..."
„Du hättest nichts tun können. Gegen jemanden mit seiner Stärke und in seiner Position, immerhin kann er laufen und du nicht, hättest du keine Chance gehabt. Und ich weiß ganz genau, was er mit dir gemacht hätte", sagt er und in seinen Augen flackert wieder die Wut auf, vielleicht sogar noch schlimmer, als gestern, weil er nun das ganze Ausmaß versteht. Ich strecke meine Hand aus und schiebe sie in seine, um ihn zu beruhigen. Er lächelt mir kurz zu und scheint wirklich wieder ruhiger zu sein. „Soweit es in meiner Macht steht, werde ich alles tun, damit dich nie jemand so verletzt", verspricht er und drückt meine Hand, während sein Blick abwesend auf die Springer gerichtet ist.
„Danke", flüstere ich. Schließlich begebe ich mich zurück zu meiner Klasse und auch Ciaran kehrt zu seiner Arbeit zurück. Finnie hat mich schon vermisst. Dieses Spiel haben sie gewonnen.

„Hey, hast du nach der Schule schon was vor?"
Ich bin ein bisschen aufgeregt wegen der Zeugnisse. Da ich noch nicht so lange an dieser Schule bin, werden größtenteils die Noten gewertet, die ich in meiner alten Schule erzielt habe, aber trotzdem. Als ich ihn sehe, verfliegt allerdings jeder andere Gedanke, der nicht mit ihm zu tun hat, aus meinem Kopf.
„Nein, wieso?"
„Ich dachte, wenn Finnie auch Lust dazu hat, könnten wir Grace im Restaurant besuchen und Ferienbeginn feiern", erklärt er.
„Ja, das wäre cool. Ich muss nur Sabine bescheid sagen, dass ich länger bleibe und dass sie alleine essen sollen", sage ich sofort zu.
„Das lässt sich ja alles regeln", meint er. „Ah, da kommt Finnie." Er geht auf sie zu und fragt sie. Sie ist sofort einverstanden und nickt begeistert. Ich rufe zu Hause an und dann klingelt es auch schon und wir machen uns auf den Weg zu unseren Klassenräumen.
In den ersten beiden vierzig minütigen Stunden spielen wir mit unseren Lehrern Spiele wie Galgenmännchen oder Promi-Raten. In der dritten Stunde haben wir schließlich Herr Wolf, mit dem wir, wer hätte es anders erwartet, Mathespiele spielen und uns in der letzten Stunde die Zeugnisse austeilt. Ich bin zufrieden. In Französisch habe ich sogar eine Eins, und das bei Frau Munter. Jetzt mag ich sie ein bisschen mehr, wenigstens ist sie gerecht. Finnie meint später, ich hätte sie bestochen. Sie hätte gerne in Mathe eine Eins gehabt, wie in den Jahren zuvor, aber in diesem Halbjahr waren die Klassenarbeiten nicht ihr Fall gewesen, weshalb sie es nur auf eine Zwei geschafft hat, aber ansonsten ist auch sie zufrieden.
Wir treffen uns mit Ciaran vor der Schule. Er lächelt, als wir auf ihn zukommen. Dann führt er uns zu seinem Auto und wir steigen ein. Die Fahrt überbrücken wir mit Smalltalk, doch es dauert nicht lange, da kommt schon das große Gebäude in Sicht. Es ist weiß gestrichen und über der Tür prangt in großen Lettern der Name des Restaurants: Traube&Lamm. Über die Schönheit des Namens lässt sich sicherlich streiten. Das Innere des Schankraums ist gemütlich und durchaus geschmackvoll eingerichtet. Die Stühle sind mit rotem Leder bezogen und die Tische aus poliertem Holz und mit Verzierungen und Macken sehen alt aus. Ciaran zieht von einem Tisch am Fenster den Stuhl weg, der zur Raummitte zeigt und wir setzen uns. Es dauert nicht lange, da kommt Grace zu uns.
„Hallo", ruft sie freudig, „das ist ja schön, dass ihr mich besucht!"
Ciaran steht auf, um sie zu umarmen. Ich denke, zwischen ihnen herrscht eine besondere Beziehung, die nicht alle Geschwister haben. Sie haben nur noch sich, eine Familie, dir nur aus zwei Geschwistern besteht.
„Hi, Alice", wendet sie sich mir zu. „Und dich kenn ich noch nicht. Wie heißt du?"
„Ich bin Finnie", stellt sie sich vor. „Und du?"
„Grace, Ciarans Schwester. Kann ich euch schon mal was zu trinken bringen?"
„Für mich nur ein Wasser", antwortet Ciaran.
„Für mich auch", schiebe ich schnell hinterher.
„Ich hätte gerne eine Apfelsaftschorle", meint Finnie und grinst, „ich mag nämlich kein Wasser."
„Okay, ich bring euch dann auch gleich die Karten." Damit verschwindet Grace wieder.
Ich wende mich besorgt an Ciaran. „Ich glaube nicht, dass ich genug Geld dabei habe, um hier etwas zu essen."
„Keine Sorge. Den Rest kann ich dir leihen. Damit habe ich gerechnet." Er lächelt so einladend, dass ich unwillkürlich mitlächele.
„Ah, unsere Getränke und Karten kommen", sagt Finnie und reißt mich aus meiner Versunkenheit. Wir schlagen die in Leder gebundenen Karten auf und studieren sie. Schließlich haben wir alle etwas gefunden und bestellt. Finnie hört gar nicht mehr auf, zu erzählen, aber mir ist es recht. So muss ich nicht reden. Ich sehe aus dem Fenster auf die Straße. Passanten kommen am Restaurant vorbei. Eine Familie mit ihrem Kind. Das Kind schaut zu mir, aber die Eltern ziehen es schnell weiter. Offenbar sind sie in Eile. Ein anderes Pärchen schlendert vorbei, sich gegenseitig an den Händen haltend und lächelnd. Vielleicht genießen sie, dass endlich Ferien sind. Mein Blick wandert auf den Tisch vor mir. Ciarans Arm liegt darauf und ich betrachte das Tatoo. In meinen Fingern kribbelt es und da ich nicht viel nachdenke, landen sie wie von selbst auf seiner Haut und fahren die Linien nach. Kreise, Ecken, gerade Linien. Plötzlich merke ich, dass er eine Gänsehaut hat. Seine Hand ist zu einer Faust geballt. Als ich meinen Blick hebe, fällt er genau in seinen. Und obwohl seine grünen Augen mich offen und ehrlich ansehen, kann ich die Gefühle, die sich darin spiegeln, nicht entschlüsseln. Auf einmal steigt ein so heftiger Wunsch in mir auf, ihn zu küssen, dass mir eine wohlige Gänsehaut über den Rücken kriecht. Dann dringt wieder Finnies Stimme an mein Ohr und ich ziehe meine Hände zurück und senke den Blick in meinen Schoß. Finnie redet unbeirrt weiter. Offensichtlich hat sie von unserem Blickaustausch nichts mitbekommen. Als ich wieder hochsehe, hat Ciaran seinen Arm ebenfalls weggenommen.
Das Essen ist gut und der Nachmittag, den wir in der Stadt verbringen, vergeht wie im Flug. Schließlich fährt Ciaran zuerst Finnie, dann mich nach Hause. Ich habe das Gefühl, dass er mich, bevor er mich in den Rollstuhl setzt, ein wenig fester als sonst an sich drückt. Plötzlich bekomme ich Angst.
„Wir sehen uns doch in den Ferien, oder?", frage ich.
Er lächelt. „Klar."
„Na dann, tschüss", verabschiede ich mich. Ich sehe zum Haus. Niemand sieht aus den Fenstern heraus. Irgendwo in mir drin hoffe ich, er würde mich küssen. Aber er tut es nicht. Er lächelt nur.
„Wir sehen uns, Alice", sagt er leise. Dann geht er ums Auto herum, steigt ein und fährt los.
Und er hat mich nicht geküsst. Nicht mal auf die Wange. Wir haben Zeit, sage ich mir. Aber ich will nicht länger warten. Ich will keine Zeit verschwenden, die ich vielleicht mit ihm verbringen könnte.
Ich wende und fahre zur Haustür.

-Hallo Leseratten,
Ich weiß, das Kapitel ist nicht sehr lang und ich hoffe auch, dass es in Ordnung ist, dass ich die beiden Tage kürzer gefasst habe (könnt ihr mir gerne zurückmelden (; ), aber dafür habe ich schon schöne Szenen für die Ferien geplant.

Euer readerbunny01-

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt