Epilog

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Jetzt fühle ich mich besser. Ich bin wieder vollkommen geheilt. Medizinisch gesehen, aber bewegen kann ich mich dennoch nicht. Ich habe aufgegeben. Vielleicht liegt es daran, aber es ist mir auch egal. Dieser ganze Psycho-Kram zehrt mich aus. Ich habe Sabine gesagt, dass ich das nicht mehr will, zumindest vorerst. Wenn ich jeden Tag mit diesem Psychologen über meine Gefühle sprechen muss, habe ich das Gefühl, nicht für mich trauern zu können. Aber um ihn loszulassen, muss ich das. Das zwischen ihm und mir war Unser und das würde es auch belieben.
Die Tage ziehen zäh und langsam dahin. Die Nächte sind besser. Ich träume nicht mehr von ihm. Genau gesagt, träume ich gar nicht mehr. Am Tag jedoch denke ich ständig an ihn. Die Erinnerungen verblassen bereits. Von seinem Gesicht weiß ich nur noch, wie seine Augen, seine Lippen und sein Haar aussahen. Anfangs habe ich versucht, dagegen anzukämpfen, aber je mehr man sich bemüht, die Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, desto weiter rücken sie in die Ferne. Auch damit muss ich mich abfinden, sage ich mir immer wieder.
Wenigstens gehe ich mit meinen Mitmenschen nicht mehr so unfair um, wie am Anfang, worüber ich sehr froh bin. Im Gegenteil. Ich ziehe mich mehr und mehr zurück. Sabine und Thomas bemühen sich, irgendetwas aus mir herauszulocken oder mich abzulenken. Was genau hinter ihren Bemühungen steckt, weiß ich nicht genau. Liebe wahrscheinlich. Leider bin ich momentan nicht in der Lage, das zu erwidern. Zu sehr hat sie mich enttäuscht, die Liebe.
Mittlerweile besitze ich einen Rollstuhl, den ich mit dem Kopf steuern kann. Er gibt mir ein bisschen Selbstständigkeit. Allerdings immer noch zu wenig. In der Schule brauche ich nur keine ärztliche Unterstützung, weil Finnie entschuldigt ist, mich zu jeder Unterrichtsstunde zu begleiten, und weil ich in jedem Kurs jemanden habe, der mir alle Unterrichtsmaterialien kopiert.
Heute sind wir an einen See gefahren. Er ist nicht zugefroren, aber der Anblick mit den vereisten Trauerweiden, die um den See zu finden sind, ist märchenhaft. Viel Schnee liegt nicht, aber es reicht, um einen Schneemann zu bauen, was Marie auch sofort machen will. Thomas und Sabine lassen sich beide überreden, mitzumachen, während ich daneben sitze und zuschaue. Dies ist einer der wenigen Momente, in denen ich lächeln muss. Es macht mich froh, zu sehen, dass es ihnen so weit gut geht und sie sich von meiner Situation nicht das Leben vermiesen lassen. Sie können damit umgehen, ich muss es erst noch lernen.
Ich wende mich ab und fahre in Richtung See. Hier stehen keine Bäume mehr, weshalb ich in den verhangenen, eisgrauen Himmel blicken kann. Das Wasser muss eiskalt sein. Der einzige Grund, warum sich noch kein Eis gebildet hat, ist die Tiefe des Sees.
Bilder tauchen vor mir auf und ich schließe die Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob es Erinnerungen sind oder eher Wunschvorstellungen oder Träume. Wir sitzen an diesem See, Ciaran und ich. Er hat den Arm um mich gelegt. Es ist Sommer und der Sonnenuntergang färbt das Wasser golden. Ich lege den Kopf an seine Brust und höre seinem Herzen zu, wie es schlägt. Es ist ein Moment, und es passiert nicht viel. Aber ich würde jederzeit und liebend gerne mein gesamtes zukünftiges Leben gegen diesen Moment eintauschen.
„Alice?“
Ich hebe den Kopf und sehe ihn an. Seine grünen Augen leuchten im Licht der untergehenden Sonne. „Ja?“ Ich verziehe die Mundwinkel zu einem breiten Lächeln.
Er hebt die Hand und streicht mit dem Daumen über meinen Wangenknochen. Dann fährt er mit dem Zeigefinger über meinen Haaransatz und den Bogen meines Ohrs. Zuletzt betrachtet er eingehend meine Lippen. Ich seufze.
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich dich liebe“, sagt er leise und mit tiefer Stimme.
„Doch“, erwidere ich schelmisch, „genauso wie ich dich.“
Er lächelt, bevor er die Hand an meinen Nacken legt und sich vorbeugt, um mich zu küssen. Seine Lippen berühren seicht meine und teilen sie, um endlich miteinander zu verschmelzen. Seine Haut an meiner Nase ist warm und sein Atem an meiner Wange ebenso. Als sich unsere Lippen wieder voneinander lösen, legt er seine Stirn an meine und blickt mir tief in die Augen.
„Du bist mein Seelenpartner“, flüstert Ciaran leise.

Ich öffne die Augen. Träume sind besser als Erinnerungen - aber nicht gut genug. Vor allem, weil das Aufwachen wieder so wehtut wie beim ersten Mal. Tränen benetzen meine Wangen, gefrieren fast in der klirrenden Luft. Die Szenerie ist tot und trostlos. Ich drohe zu ersticken an dem großen Trauerkloß in meinem Hals. Rasselnd atme ich ein. Ein Schluchzen findet dabei ebenso seinen Weg nach oben.

Please tell me 
Why do birds 
Sing when you're near me 
Sing when you're close to me 
They say that I'm a fool 
For loving you deeply 
Loving you secretly

Es singen keine Vögel. Und er ist auch nicht bei mir. Vielleicht bin ich verrückt gewesen, ihn so sehr zu lieben, aber ich würde es nie anders machen wollen.


Please tell me 
Why can't
Breathe when you're near me 
Breathe when you're close to me 
I know you know I’m lost 
In loving you deeply 
Loving you secretly 
Secretly

Atmen kann ich aber auch nicht ohne ihn.
Ich schaue zu meiner Familie, die weiter den Schneemann baut und sogar lacht. Mein Körper zittert, obwohl mir nicht kalt ist. Meine Augen brennen, obwohl kein Wind weht.


Well I crash in my mind 
Whenever you are near 

Ich will, dass er weiterlebt. Irgendwo und irgendwie. Vielleicht im Himmel, vielleicht in der Hölle. Aber ich will, dass er weiterlebt. Er kann doch nicht einfach weg sein. Dafür ist das Universum doch viel zu groß. Wie kann denn das Leben entstanden sein, wenn es nichts gibt, was über unseren Verstand hinausgeht? Wie kann so ein wunderbarer Mensch wie er entstanden sein, ohne jemanden, der genau diesen Menschen wollte? Da muss es doch einfach etwas geben, das ich nicht verstehe, aber wodurch ich mir sicher sein kann, dass Ciaran gut aufgehoben ist, oder?
Vielleicht ist es dann jeder Mensch, der stirbt. Vielleicht ist der Tod die Bezeichnung für ein anderes Leben. Und vielleicht kann ich auch dieses andere Leben erhalten, wenn ich alt bin und sterbe. Oder wenn ich nicht alt bin und sterbe.
Erneut schaue ich zurück. Thomas, Sabine und Marie. Ich liebe sie und sie lieben mich. Sie würden den gleichen Schmerz erfahren, wie ich in diesem Moment. Könnte ich ihnen das antun?
Und Finnie? Sie ist meine Freundin, sonst hat sie keine. Es gibt nicht viele, die mit ihrer verrückten und ehrlichen Art zurechtkommen.
Du hattest ein Handicap und hast trotzdem gelächelt und warst glücklich. Darum habe ich dich beneidet und wollte es dir... Ich weiß nicht... austreiben oder so. Aber dann wurdest du glücklicherweise zu meinem Vorbild. Das hat Zayne mir gebeichtet, als er mich im Krankenhaus besuchte. Was wäre ich für ein schreckliches Vorbild.
Und Simon? Er kennt mich, seit wir klein sind. Er kennt mich sogar länger, als Sabine und Thomas. Wie eine zweite Hälfte war er immer für mich gewesen. Womöglich die bessere. Und er liebt mich. Wie könnte ich ihm diesen Schmerz und diese Verzweiflung antun, die mich so quält?
Mit Elli konnte ich immer Lachen, bis wir Bauchschmerzen bekamen. Laura war eine Stütze und eine Sicherheit, durch die ich immer wusste, dass ich nicht allein bin. Markus war die starke Schulter, an die man sich lehnen konnte, und die alles locker nahm, sodass man selbst keine Angst mehr hatte, vor dem, was kommt. Aber sind sie das noch? Habe ich sie nicht zurückgelassen, als ich umgezogen bin? Ich bin noch nicht sicher.
Und meine leiblichen Eltern? Womöglich würde ich sie dort auch wiedersehen. Vielleicht könnte ich sie neu kennenlernen, als meine Eltern. Und selbst wenn nicht.
In diesem Hier und Jetzt ist so viel Schmerz und Verlust und Trauer. Wieso muss ich das alles immer ertragen? Kann ich nicht einmal tun, was mir guttut? Das Leben abgeben, an jene, die mehr davon haben, als ich? Für die es keine Qual ist, jeden Tag aufzustehen und abends einzuschlafen? Reicht es nicht langsam? Ich würde Thomas und Sabine sterben sehen, und bei diesem Gedanken kriege ich jetzt schon Schweißausbrüche der Panik. Ich will das nicht mehr. Das ganze Leid. Muss ich denn immer selbstlos sein, kann ich nicht einmal egoistisch handeln?
Mir kommt ein Zitat in den Sinn, das ich aus einem Buch kenne. „Sterben ist friedlich...“, heißt es dort, „leicht... Leben ist schwerer.“
Mein Herz beginnt wie wild zu schlagen. Das Wasser ist nicht zugefroren. Am Ufer befinden sich keine Pflanzen. Ich könnte einfach so losfahren. Bis Thomas oder Sabine etwas bemerkt hätten und die Gurte gelöst hätten, die mich an den Rollstuhl fesseln, wäre ich vielleicht schon bewusstlos, oder bereits in seinen Armen, wenn es denn ein Leben nach dem Tod gibt.
„Aber wir brauchen noch eine Möhre für die Nase!“, beschwert sich Marie.
Ich lächele leise und entspannt. Plötzlich schlägt mein Herz wieder ruhig und gleichmäßig.
Ja, es wäre so viel leichter...

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt