Kapitel 38

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Am nächsten Morgen hat Ciaran seine Arme noch fester um mich geschlungen, als am Abend zuvor. Er schläft noch. Ich küsse ihn dort am Hals, wo mein Kopf liegt, woraufhin er seine Position lockert, lächelnd zu mir hinuntersieht und mich ebenfalls küsst. Dann dreht er sich weg, um auf seinen Wecker zu sehen. Als er sich wieder zu mir dreht, sagt er: „Wir haben schon halb zwölf."
„Oh", erwidere ich nur. Eigendlich ist mir egal, wie viel Uhr wir haben. Zumindest, bis in dem Moment mein Magen zu knurren beginnt. „Oh."
Er lacht und rutscht unter der Decke raus, um möglichst wenig Luft durch den Schlitz zu lassen. Ich bekomme trotzdem was ab und sofort bildet sich an den betroffenen Stellen Gänsehaut. Er zieht zuerst sich selbst an und wendet sich dann mir zu. Er lässt sich viel Zeit und zwischendurch verteilt er immer wieder Küsschen auf meiner Haut, bis ich ihm sage, er solle sich mal beeilen, weil mir kalt sei. Als wir beide fertig sind, trägt er mich ohne Rollstuhl die Treppe hoch ins Erdgeschoss und in die Küche, wo er mich auf einen der Küchenstühle setzt. Dieser hat zum Glück Armlehnen, sodass ich mich gut abstützen kann. Ciaran macht den Herd an, und kurz darauf riecht es in der Küche wunderbar nach Ei. Ein paar Minuten später kommt auch Grace in die Küche gerauscht und bleibt überrascht im Türrahmen stehen.
„Ach, guten Morgen, ihr Süßen. Seid ihr auch schon wach?"
An ihrer Stimme ist eigentlich nichts zu erkennen außer Überraschung, aber mir steigt trotzdem die Röte in die Wangen, wahrscheinlich nicht du wegen des Aspekts, dass wir lange geschlafen haben.
„Ja, da staunst du, was?", erwidert Ciaran. „Kaum zu glauben, aber auch wir sind mittlerweile aufgestanden."
„Ach, Bruderherz, wie sehr ich deine Ironie liebe. Ich habe schon gefrühstückt, so etwa vor drei Stunden, oder so, also esst ruhig ohne mich. Ich mach mir nachher dann was zu Mittag", sagt Grace und verschwindet durch eine andere Tür, die, soweit ich weiß, ins Wohnzimmer führt. Ich merke erst, dass ich die Luft angehalten habe, als ich ausatmen und dringend wieder welche brauche.
Ciaran hebt die Pfanne vom Herd und stellt sie mit einem Untersetzter auf den Tisch. Er hat Rührei gemacht. Dann deckt er schnell noch Brettchen, Messer, Butter und Brot und setzt sich mir gegenüber. Nachdem er mir eine Scheibe Brot gereicht hat, sieht er mich an.
„Bist du etwa rot geworden?", fragt er in einem gespielt tadelnden Tonfall.
„Was, immer noch?"
Er nickt. Doch dann meint er: „Nein, aber ich hab gespürt, dass du dich unwohl fühltest. Aber das ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Daran wirst du dich schon gewöhnen."
„Lässt dich das denn völlig kalt?", frage ich. Irgendwie habe ich Angst, er würde bejahen.
„Nein", er lächelt mich verschmitzt an, „aber wenn man mit einer Frau wie Grace in ein und demselben Haus wohnt, lernt man über kurz oder lang, seine Gefühle zu verstecken und damit umzugehen. Aber bei dir muss ich das ja nicht." Er schenkt mir ein warmes Lächeln, das ich unwillkürlich erwidern muss. „Und jetzt lass uns essen, sonst wird das Rührei kalt."

Nach dem Frühstück muss ich noch einmal auf die Toilette. Grace kommt wieder mit. Sie packt mich unter den Armen und ich ziehe mir die Hosen aus. Ich spüre, dass sie fast vor Neugier platzt, und einen Moment später fragt sie mich schließlich.
„Und, wie war's?"
„Wie war was?", frage ich zurück und sie verdreht die Augen.
„Du weißt ganz genau, was ich meine. Wie war er so?"
Ich zögere. Gut, dass sie nicht vor mir steht, mir schießt nämlich schon wieder das Blut ins Gesicht. Normalerweise bin ich nicht so anfällig dafür. „Ganz gut, denke ich. Ich hab ja keinen Vergleich."
„Oh, dann war es dein erstes Mal?"
Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, mit Grace über solch intime Themen zu reden. Deshalb schweige ich dazu, aber sie redet auch gleich weiter.
„Wie alt bist du denn?", fragt sie mich.
„Siebzehn", antworte ich.
„Also als ich siebzehn war, da hatte ich... Aber du bist wahrscheinlich braver als ich, was?" Sie grinst verschmitzt. In diesem Moment sieht sie Ciaran unglaublich ähnlich.
„Äh, vielleicht. Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass man als Querschnittsgelähmte nicht so leicht vom einen Bett ins andere hüpfen kann."
„Oh." Grace hört sich an, als hätte sie wirklich erst jetzt darüber nachgedacht. Sie hilft mir wieder, mich anzuziehen und in den Rollstuhl zu hieven. Dann wasche ich mir die Hände. Als ich sie gerade einseife, sagt sie nachdenklich: „Weißt du, ich glaube, du tust meinem Bruder gut. Als unsere Eltern starben, war ich schon viel reifer als er. Ciaran konnte den Schock darüber, dass sie tot sind, nie wirklich überwinden. Aber in letzter Zeit scheint er so... ausgeglichen. Mit sich und der Welt im Reinen, und ich glaube, das liegt an dir."
„Wir waren auch gestern an ihrem Grab", füge ich leise hinzu. „Aber ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob er es jetzt verstanden hat."
Grace seufzt. „Ich weiß auch nicht mehr, wie ich ihm helfen soll. Du denkst vielleicht, zwischen uns sei immer alles super. Eine fröhlich perfekte Bruder-Schwester-Beziehung. Aber in Wahrheit habe ich das Gefühl, dass manchmal irgendwas zwischen uns steht. Er hat mich früher manchmal beschuldigt, dass ich gar nicht um Mama und Papa trauern würde, dabei habe ich mir nachts die Augen ausgeheult. Ich wollte stark sein für ihn. Aber zwischen euch steht nichts. Ich bin froh, dass er in dir nun die Person gefunden hat, die ich für ihn immer sein wollte. Die Familie. Vielen Dank dafür."
Als ich durch den Spiegel zu ihr aufschaue, wischt sie sich gerade die Augen trocken. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also sage ich nichts. Als ich mir die Hände abgetrocknet habe, verlassen wir das Badezimmer.
Relativ bald machen Ciaran und ich uns fertig, um zu mir nach Hause zu fahren. Schließlich stehen wir mit dem Auto vor unserem Haus am Straßenrand, aber Ciaran macht keinerlei Anstalten, auszusteigen.
„Alice, darf ich dich noch was fragen?"
„Klar", sage ich.
Er schaut mich an. „Bereust du, es getan zu haben?"
„Nein!" Meine Antwort kommt postwendend. Mit solch einer Frage habe ich nicht gerechnet. Plötzlich kommt mir ein Gedanke. „Du etwa?"
„Nein." Er lächelt und in seinen Augen blitzt Erleichterung auf. Erst seine Bedenken gestern Abend und jetzt das.
„Ich glaube, du machst dir viel zu viele Sorgen", spreche ich meine Gedanken aus. „Was sollte ich daran bitte bereuen? Ich bin auch nicht aus Glas. Okay, ich bin vielleicht emotional manchmal sehr... Ich weiß nicht, woran du übrigens Schuld bist. Aber ich komme mit mehr Dingen klar, als du vielleicht denkst. Du solltest versuchen, einfach mal dein Leben zu leben und nicht zu sehr in schon längst Geschehenem festhängen."
Er schweigt einen Moment. Hoffentlich war ich jetzt nicht zu grob. Dann sagt er leise: „Tut mir leid, aber das mache ich schon so lange Jahre... Seit ihrem Tod denke ich, ich müsste ständig jeden um mich herum schützen, obwohl das ja eigentlich nicht möglich und nötig ist, und... Ich will dich nicht verlieren, Alice."
„Ach, Ciaran, das wirst du nicht. Ehrlich, ich kann mir nicht vorstellen, jemals einen Menschen so zu lieben wie dich. Wirklich nicht. Das einzige, das mich von dir trennen könnte, wäre der Tod, aber ich habe nicht vor, in nächster Zeit zu sterben, also..."
Wieder schweigt er. Dann sieht er auf und auf seinen Lippen liegt ein Lächeln. „Du bist echt außergewöhnlich, Alice. Ich liebe dich."
Ein warmer Schauer läuft mir über den Rücken und Ciaran küsst mich. Es ist anders als vorher. Wir sind immer noch Ciaran und Alice, aber wir haben uns verändert, und deshalb fühlt sich auch der Kuss anders an. Nicht schlecht, aber anders. Mir wird klar, dass wir uns auch in Zukunft verändern werden. Wir werden älter werden und reifen, ebenso wie unsere Beziehung. Bis wir eines Tages alt und des Lebens müde in unseren Schaukelstühlen auf der Veranda sitzen und zu den Sternen hinaufschauen und sehen, dass es immer noch derselbe Himmel ist. Aber mir wird auch klar, dass es genau das ist, was ich will.

-Hallo Leseratten,
Eigentlich hatte ich noch was Kurzes in diesem Kapitel geplant, aber dann habe ich gedacht, dass diese Stelle einfach nur perfekt als Schluss geeignet ist. Man weiß ja nie so genau, was aus dem Kapitel wird... Wie gefällt es euch? Es gibt ja schon recht viele ernstere Gespräche und ja, es ist auch etwas kürzer als ihr es gerne hättet, ich weiß;).
Und noch was muss ich loswerden: Ich finde die Beziehung, die die beiden führen, ja absolut bezaubernd. Ich weiß nicht, wie ihr das seht, aber so was wünsche ich mir auch für mein Leben...
Bis zum nächsten Mal!
Euer readerbunny01-

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now