Kapitel 39

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Ich habe schon wirklich sehr viele schöne Sommer mit Elli, Markus, Simon und Laura verbracht. In den einen Ferien reisten wir alle zusammen in das Ferienhaus von Markus' Eltern an einem See. Drei Wochen lang völlige Unabhängigkeit. Ein anderes Mal fuhren Elli, Laura und ich in eine Kreativ-Freizeit. Eine Woche lang nur basteln, malen und handwerklich aktiv werden. Auch wenn ich es als wir umzogen nie gedacht hätte: Dieser Sommer gehörte zu den besten und schönsten in meinem Leben. Und so wundervoll er mir in Erinnerung bleiben wird, so kurz ist er auch schon wieder vorbei. Besonders die letzten Tage vergehen wie im Flug. Besonders, wenn man den Großteil seiner Zeit in einer Klinik verbringt. Aber mittlerweile sehe ich nicht mehr so schwarz. Die erste Hürde ist geschafft und es geht stetig bergauf mit meiner Lähmung. In den letzten Tagen sollte ich sogar schon anfangen, zumindest in der Klinik auf Krücken zu laufen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, es auch zu Hause zu tun, um den Prozess zu beschleunigen, aber es ist so anstrengend, dass ich, wenn ich nach Hause komme, fast nur auf der Couch oder im Garten liege. Äußere Einflüsse kann ich mittlerweile spüren, sogar den Fußboden, wenn ich keine Schuhe anhabe. Aber selbst habe ich noch keine Gewalt über meine Beine.
Und dann ist wieder Schule. Ein weiteres Schuljahr, eine Klasse weiter, Oberstufe. Ich glaube, ich habe die so ziemlich langweiligsten Leistungskurse gewählt, die es gibt. Ich hatte auch wirklich Probleme, denn außer Kunst wusste ich nicht, was mir voll und ganz zugesagt hätte. Aber da es an dieser Schule zu wenig Kunstlehrer gibt, wird es keinen Kunstleistungskurs geben. Letztendlich habe ich Deutsch, Bio und Englisch gewählt, die Standartkombination.
Viel zu schnell holt einen das Schulleben nach den Ferien wieder ein, und oft kommen mir die letzten Wochen vor wie ein allzu schöner Traum: wie mein persönlicher Sommertraum. Aber immer wenn ich dann Ciaran sehe oder er mich küsst, wird mir bewusst, dass es nicht nur ein Traum war, sondern alles echt. Das sind die schönsten Momente. In den Ferien hat sich mein ganzes Leben umgestülpt. Es hat mit dem Umzug begonnen und es endet mit Ciaran. Obwohl, eigentlich endet es noch gar nicht. Noch lange nicht.
Auch mit meiner Therapie geht es immer weiter aufwärts. Zwar klappt das mit den Krücken noch nicht wirklich und ich habe keinerlei Kontrolle, was meine Beine tun, aber ich kann den Boden spüren und ich merke irgendwie, dass es besser wird. Auch wenn ich manchmal verzweifele: Es ist, als gäbe es eine Verbindung von den Beinen zu meinem Kopf aber umgekehrt nicht. Das ist nicht nur sehr enttäuschend, sondern auch sehr anstrengend. Über das Muskelkarterstadium bin ich zwar schon hinaus, aber trotzdem falle ich abends todmüde ins Bett. Nach einem dazu warmen und langen Schultag, ist die Therapie dann noch schöner. In meinem momentanen Leben existiert so etwas wie Freizeit fast nicht mehr. Aber irgendwie mag ich es dennoch. Endlich kann ich was tun, endlich kann ich kämpfen.

Wir haben gerade große Pause und Finnie und ich wollen uns draußen mit Ciaran treffen, wir sind beide im selben Grundkurs Kunst, aber als wir das Gebäude verlassen, ist Ciaran nicht allein. Leonard ist bei ihm und er sieht sehr wütend aus. Beide sehen aus, als würden sie sich im nächsten Moment an die Gurgel gehen, Leonard hat Ciaran sogar am Kragen gepackt, aber als sie sehen, dass wir kommen, treten sie schnell einen Schritt auseinander. Finnie scheint von der angespannten Stimmung nichts mitbekommen zu haben. Überschwänglich begrüßt sie ihren Freund und küsst ihn sogar. Sie hakt sich bei ihm unter und er legt einen Arm um sie. Ciaran und ich beobachten, wie sie losspazieren. Während Finnie ihm sonst was erzählt, blickt sich Leonard noch einmal um. Aus seinen kalten Augen scheint es zu blitzen, und diese Blitze sind nicht auf mich gerichtet.
„Ich mag ihn nicht", sage ich kurzerhand, woraufhin Ciaran trocken auflacht. Ich werfe ihm einen Blick zu. Zu gern wüsste ich, was er gerade denkt. „Ich meine, irgendwie habe ich das Gefühl, Finnie beschützen zu müssen. Aber sie ist so was von verliebt."
„Wie du", schmunzelt Ciaran und sieht mich endlich an. Mir ist bewusst, dass er das Thema wechselt.
„Wie ich", gebe ich zu.
„Und wie ich."
„Und wie du."
Er beugt sich zu mir und küsst mich. Wohlige Schauer laufen über meinen Rücken. Bis in meine Zehenspitzen. Glücklich und alles andere vergessend lächele ich in seinen Kuss hinein.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now