Kapitel 36

2.6K 179 5
                                    

Noch in den nächsten Tagen zehre ich von diesem wundervollen Nachmittag. Von dem Kuss auf dem Rastplatz, von dem Flug, aber auch von der Zeit, die wir anschließend in der Stadt verbracht haben.

Am nächsten Montag nach unserem Ausflug habe ich meine erste Therapie bei Dr. Krumm, einem Therapeuten in meiner Nähe, fünfunddreißig Minuten Autofahrt, den mir mein Arzt aus meiner alten Heimat verschrieben hat. Er soll schon mehrmals mit Lähmungen zu tun gehabt haben. Ich bin gespannt, was auf mich zukommen wird. Thomas fährt mit mir hin. Die Straßen in der Stadt sind alle sehr eng und verwinkelt, was Thomas Probleme bereitet, mit dem großen Bus hindurchzufahren. Zudem gibt es so viele von ihnen, dass unser Navi ebenfalls verwirrt ist und wir erst sechs Einheimische fragen müssen, bis wir endlich die Klinik finden. Es ist ein großes Backsteingebäude, mit Gittern vor den Fenstern, das mich zuerst an ein Gefängnis oder eine Irrenanstalt erinnert. Die schweren Türen sind unpraktisch, da ich sie ohne Hilfe nicht öffnen kann, aber im Inneren erwartet uns eine angenehme Atmosphäre. Es riecht nicht, entgegen aller Erwartungen, nach Krankenhaus und Desinfektionsmittel, sondern nach Gemütlichkeit und Wärme. Den Boden bedeckt ein dunkelgrüner Teppich und die Vorhänge an den Fenstern sind bordeauxrot. An der einen Wand steht ein altes hölzernes Bücherregal und es gibt einen schon etwas verschlissenen Ledersessel. Die Rezeption bedeckt eine graue Schieferplatte und am anderen Ende des Raumes beginnen die Flure. Auch die Türen eines Aufzuges kann ich entdecken.
Thomas geht sofort auf die ältere Dame an der Rezeption zu, während ich mich noch umsehe. Sie trägt eine dunkel geblümte Bluse und ihr langes silbergraues Haar trägt sie geflochten in einem Zopf. Auf der Nase sitzt ihr eine vergoldete Brille.
„Hallo“, begrüßt Thomas sie und ich lächele. „Wir haben einen Termin bei Dr. Krumm. Alice Meij, der Name.“
„Hallo, Dr. Krumm erwartet Sie schon. Einmal den Flur nach rechts, Zimmer fünf“, informiert uns die Empfangsdame mit einem netten Lächeln, Thomas nickt und ich folge ihm in den Flur. Thomas ist der Meinung, dass ich allein zurecht kommen müsse. Der Meinung sind viele, aber er ist der einzige, der es konsequent durchzieht, meinen Rollstuhl nicht zu schieben. Er hilft mir zwar aus dem Auto und hält mir schwere Türen auf, aber sonst behandelt er mich so wie er jeden anderen auch behandeln würde. Das schafft einerseits schon eine Art von Distanz zwischen uns, aber irgendwie mag ich diese Eigenschaft an ihm.
Dr. Krumm hat keinen weißen Kittel an, sondern nur ein weißes T-Shirt, was ihn mir gleich sympathischer macht. Er ist noch relativ jung, oder sieht zumindest so aus, etwa wie Ole. Außerdem begrüßt er uns herzlich, als wir das Zimmer Nummer fünf betreten.
„Hallo, du musst Alice sein. Schön, dass du da bist. Und Sie sind?“, fragt er, während er über mich hinwegblickt.
„Thomas Luxen“, antwortet Thomas und reicht ihm die Hand.
„Sehr erfreut. Meine Kollegin Frau Anders wird ebenfalls gleich für die Untersuchungen kommen. Bis dahin werde ich dir, Alice, einige Fragen zu dem Verlauf deiner Lähmung stellen. Ich habe hier auch den Ursachenbericht mit den Ergebnissen der vorangegangenen Untersuchungen, insbesondere die direkt nach dem Unfall. Das war mit fünf, nicht war?“
Ich nicke.
„Anschließend warst du bei Ole Weber in Therapie?“
Abermals nicke ich.
„Und nun nach mehr als zehn Jahren kannst du wieder etwas in deinen Beinen spüren?“
„Ja, aber wirklich nicht viel.“
„Wann hast du es gemerkt?“
„Wir waren draußen am Teich und als ich dann meine Füße ins Wasser getan habe, spürte ich plötzlich, wie kalt es war“, erzähle ich und er nickt und macht sich Notizen. Dann klopfte es an der Tür und eine Frau mittleren Alters mit dunkelbraunem Haar, das sie zu einem Zopf gebunden trägt, betritt das Zimmer. Vor sich her schiebt sie einen silbernen Wagen mit zwei Etagen, auf denen allerlei Dinge liegen.
„Ah, da ist sie ja“, meint Dr. Krumm, „wenn ich vorstellen darf: Frau Anders, meine Kollegin, Alice, meine Patientin, und Herr Luxen.“
Frau Anders nickt uns zu und lächelt freundlich. Dr. Krumm und Frage Anders führen zahlreiche Versuche durch, auf was ich reagiere, und auf was nicht. Zum Beispiel halten sie mir einen Beutel mit Eis an meine Beine, um zu testen, ob ich Kälte spüren kann. Das ganze versuchen sie auch mit einem zum Glück nur lauwarmen Kirschkernkissen. Sowohl Hitze als auch Kälte kann ich spüren, wie ich vorher schon wusste. Dann testen sie, ob ich zwischen rau und weich unterscheiden kann, was ich leider nicht kann, weil ich noch keine Berührungen merke. Nach vielen weiteren Tests beginnen sie mit irgendeiner Therapie, bei der sie mir Nadeln in die Beine stecken. Dr. Krumm hat uns zwar erklärt, was und warum er das macht, aber ich habe nicht so genau zugehört. Wenn ich ehrlich bin, ist mir nach diesen nervenzehrenden Versuchen alles Recht, solange er meine Beine wieder zum Fühlen bringt.
Zum Schluss meint er noch, dass er diese Therapie höchstens noch zwei Wochen durchführen wird, bis ich etwas fühle. Wenn das nicht anschlägt, wird er noch Anderes probieren. Ich soll also jeden Werktag, also Montag bis Freitag, hier antanzen für diese Therapie. Das ist ja eigentlich nicht schlimm, solange es hilft. Aber das bedeutet auch, dass ich Ciaran höchstwahrscheinlich nur noch an den Wochenenden sehen kann. Also stehe ich jeden Tag vormittags auf, werde in die Klinik gefahren und darf spät Nachmittags wieder nach Hause. Bei diesen Zeiten kann man weder vor noch nach dem Termin noch was Anständiges machen, und so zieht sich die Woche in die Länge. So toll die Therapie auch ist, und so viel sie mir auch bringen mag, ich kann es kaum erwarten, am Samstag Ciaran wieder zu sehen.

Samstag Morgen sitze ich wie auf heißen Kohlen und erwarte ihn sehnsüchtig. Er hat gesagt, er würde vormittags vorbeikommen. Und dann klingelt es endlich. Ich bin die erste an der Tür und fahre ihn fast um, als ich auf die Veranda komme. Es ist wirklich kaum zu glauben, aber ich freue mich so sehr, ihn wiederzusehen, dass mir fast die Tränen kommen. Ciaran freut sich ebenso sehr und hebt mich sogar aus dem Rollstuhl, um mich einmal im Kreis zu wirbeln. Dann drückt er mich fest an seine Brust und vergräbt sein Gesicht in meinem Haar.
„Hey, was ist los?“, fragt er, als ich mir über die Augen wische.
Ich muss kurz lachen. „Nichts, ich hab dich nur vermisst.“
Als Antwort küsst er mich lange und zart auf die Lippen.
„Siehst du? Das meine ich“, sage ich lächelnd.
Er setzt mich wieder in den Rollstuhl und fragt: „Und, was machen wir heute?“
„Ich hab schon was geplant“, sage ich und lache über seinen überraschten Gesichtsausdruck. „Du fährst zwar, aber ich sage dir nicht wo wir hinfahren. Ich diktiere nur.“
„Okay“, meint er gedehnt. „Wie lange werden wir weg sein?“
„Schon recht lange. Ich würde sagen so fünf Stunden, wenn wir noch was zu Mittag essen wollen.“ Das Ziel, wo ich hin möchte, liegt anderthalb Stunden Autofahrt entfernt.
„Ich habe aber nicht viel Geld mitgenommen“, bedenkt Ciaran.
„Ich hole noch was“, sage ich und fahre zurück ins Haus. Ciaran kommt mir nach, um Sabine „Hallo“ zu sagen. Sie holt ihr Portemonnaie und gibt mir einen Fünfziger. Das sollte reichen. Dann kann es losgehen. Man kann Ciaran ansehen, dass er lieber wüsste, wo er hin fährt. Aber so wie er mich sonst immer auf die Folter spannt, muss er das jetzt auch über sich ergehen lassen. Auf der Fahrt erzähle ich ihm von den Untersuchungen und der Therapie. Zwischendurch machen wir in einem Autobahnlokal Rast und kaufen uns dort etwas zu Mittag. Zu allem Unmut kommen wir auch noch in einen Stau, der uns eine dreiviertel Stunde Zeit kostet.
Irgendwann wird Ciaran immer stiller und als wir dann die letzte Ausfahrt nehmen, fragt er mich schließlich. „Da willst du mit mir hin?“ Er hört sich sogar wütend an. Um ehrlich zu sein, habe ich mir nicht viele Gedanken darüber gemacht, was er von meinem Ziel hält, aber als er damals mich nach meinem größten Traum gefragt hat, hat er mir dieses Geheimnis anvertraut.
„Ja.“ Ich weiß nicht, was ich sagen könnte, was ihn beruhigt.
Er wirft mir einen kurzen Blick zu. „Alice, das ist wirklich nicht einfach für mich.“
„Ich weiß. Glaub mir, ich verstehe das.“
Er seufzt und es entsteht eine schwere Stille, weil wir beide wissen, was uns bevorsteht. Ich muss ihm den restlichen Weg nicht mehr erklären. Als er schließlich hält, meint er, ohne mich anzusehen: „Ich bin schon oft hier her gekommen und bin dann doch wieder heimgefahren, weil... ich mich nicht getraut habe. Ich bin dir dankbar, dass du mich dazu zwingst.“
Als er mich ansieht, lächelt er zwar, aber in seinen Augen kann ich Angst erkennen.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now