Kapitel 3

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Mit euch meint er meine kleine Schwester Marie, also eigentlich meine Cousine, aber ich sehe sie wie meine Schwester, und mich. Sie hat strohblonde Haare und blaue Augen, und viele sagen, sie sehe aus, wie ein Engel. Das genaue Gegenteil zu mir also. Aber ich nehme es ihr nicht krumm, schließlich ist sie nicht überheblich oder hochnäsig.
Als ich ins Wohnzimmer komme, spüre ich sofort die angespannte Stimmung. Sabine und Marie sitzen auf der Couch, Thomas setzt sich in den Sessel, ich rolle daneben.
„Also...“ Mein Onkel lehnt sich vor und reibt sich die Hände, was mich total an meinen Vater erinnert. Das ist etwas, das er immer gemacht hat, wenn er sich auf etwas gefreut hat, oder wenn er angespannt war. Letzteres ist diesmal wohl eher der Fall. Thomas wechselt mit Sabine einen Blick. Diese presst ihre Lippen fest aufeinander und sieht auf ihre verschränkten Hände.
„Also?“, versuche ich, das Gespräch ins Rollen zu bringen.
„Sabine und ich... Wir arbeiten ja im Büro... und... wir wurden nun befördert und in eine andere Stadt verlegt.“ Er ist sichtlich froh, dass es nun heraus ist. Aber da hat er wohl nicht damit gerechnet, dass Marie und ich das volle Ausmaß noch nicht erkannt haben. Wir sagen erst mal nichts, was Thomas und Sabine falsch interpretieren.
„Wisst ihr, wir werden viel mehr verdienen und wir werden einen kürzeren Weg zur Arbeit haben“, meint meine Tante und schaut Marie und mir nacheinander in die Augen.
„Ja und? Das ist doch schön“, sage ich und probiere mich an einem Lächeln.
Sabine und Thomas werfen sich einen Blick zu, den ich nicht zu deuten weiß.
„Wir werden dafür umziehen“, erklärt Thomas und knetet seine Finger, während er uns unsicher ansieht.
„Ja gut“, sage ich unbeschwert. „Wie weit ist die Stadt denn entfernt und gibt es eine Busverbindung zur Schule?“
„Es gibt keine Verbindung.“
„Ja aber...“
„Alice, Marie“, sagt Sabine gedehnt, „es wird so sein, dass ihr die Schule wechseln werdet.“
Es war ja eigentlich vorhersehbar gewesen. Trotzdem trifft mich ihr Satz wie ein Schlag.
Die Schule wechseln? Alle Freunde zurücklassen? Alles Bekannte verabschieden und eiskalt in ein neues Leben springen? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Marie und ich schweigen und diesmal deuten es Maries Eltern richtig.
„Weißt du, wir werden mehr verdienen können und ihr werdet neue Freunde finden“, versucht Sabine, uns zu überzeugen.
Fassungslos schaue ich sie an. „Ich will aber keine neuen Freunde! Hättet ihr uns nicht in dieser Entscheidung nach unserer Meinung fragen können? Umziehen? Von mir aus. Es wird zwar nicht einfach, aber meinetwegen. Eine neue Stadt? Wegen mir. Aber neue Freunde? Niemals! Ihr könnt von uns nicht verlangen, dass wir unsere Beziehung einfach so abknipsen und uns neue suchen. Der Job wird ja wohl nicht so wichtig sein. Schließlich sind wir bisher auch ohne mehr Geld ausgekommen. Aber nein, man muss ja immer das Beste vom Besten haben! Habt ihr vielleicht auch ein einziges Mal an uns gedacht?“
Um die Tränen in meinen Augen zu verstecken, drehe ich mich um und rolle zur Tür. Leider bin ich nicht besonders schnell und der Abgang hat nicht den gewünschten Effekt. Als ich dann auch noch mit dem Rad am Türrahmen hängen bleibe und laut „Scheiße!“ rufe, ist sowieso alles hin. Noch mehr Tränen steigen in meine Augen, denn da sieht man's mal wieder: Ich komme alleine nicht klar. Dabei wäre ich so gerne selbstständig.
Ich spüre die Blicke der anderen auf mir, als ich den Raum verlasse.
Mein Ausbruch mag kindisch gewesen sein, aber das ist mir egal. Es war das, was mir in dem Moment in den Kopf geschossen war. Und außerdem habe ich mit dieser Meinung nicht Unrecht. Ich weiß genau, dass ich am Plan, umzuziehen, nichts ändern kann, aber ich kann Sabine und Thomas wenigstens ein schlechtes Gewissen machen, auch wenn ich es ganz und gar nicht toll finde, das zu wollen.
Als ich mich wieder einigermaßen beruhigt habe, setze ich mich wieder an die Hausaufgaben, doch ein merkwürdiges Gefühl im Bauch bleibt trotzdem.
Ich ziehe mich nicht alleine um. Vielleicht könnte ich es zwar, die Hose wie auf dem Klo und das Shirt im Sitzen, aber es ist jedes Mal sehr anstrengend und außerdem geht es schneller, wenn jemand hilft. Das Oberteil mache ich doch selbst, dann legt mich Thomas auf's Bett, etwas, bei dem ich alleine nach zehn Jahren immer noch nicht den Dreh raus habe. Mein Onkel reißt dann manchmal so Witze wie: „Das war früher noch einfacher...“ Schließlich werde ich schwerer und er älter, aber letzteres meint er natürlich nicht.
Wenn er das Zimmer wieder verlassen hat, wechselt Sabine mir die Hose und deckt mich zu. Und wenn sie dann auch noch das Licht aus gemacht und das Zimmer verlassen hat, kann ich endlich in Ruhe schlafen.
Diese Nacht geht es allerdings nicht so schnell, weil dieses fiese Gefühl immer noch da ist, das mein Herz nicht zur Ruhe kommen lässt. Ich überlege außerdem lange, wie ich die ganze Geschichte morgen meinen Freunden erzählen soll. Ich hätte schreiben können: Ich wälze mich lange hin und her, aber das würde nicht der Wahrheit entsprechen. Mit keinen Beinen kann man sich nicht wälzen, aber dieses Nichtkönnen machte mich unglaublich ungeduldig und unruhig. Vielleicht vergleichbar mit dem Gefühl, wenn man Platzangst hat, nur nicht so stark. Wenn man sich unbedingt bewegen will, es aber nicht kann.
Ich habe das Gefühl, es sei schon mitten in der Nacht, als mir ein Gedanke kommt: Ich habe kein Problem damit, umzuziehen. Meine Freunde zu verlassen, ist auch nicht das schlimmste, denn wir haben alle Skype und können uns immer noch treffen. Das, was mir Magenschmerzen bereitet, ist Angst. Ich habe Angst davor, alleine zu sein auf der neuen Schule. Ich hätte zumindest am Anfang noch keine Freunde, die mir helfen könnten. Ich wäre auf mich allein gestellt. Und davor fürchte ich mich.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now