Kapitel 9

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„Du lächelst ja so“, meint Sabine, während sie mir den Teller voll Nudeln und Soße schöpft. „War der erste Tag doch nicht so schlecht?“ Wir sitzen alle in der Küche am Mittagstisch und essen.

Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich lächele und wenn ich an den Tag im einzelnen zurückdenke, ist er eigentlich ganz okay verlaufen, außer, dass ich zu spät kam und meine Französischlehrerin nicht mag. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass ich die ganze Zeit lächele, dass ich Ciaran nicht aus dem Kopf bekomme.

„Es war okay“, sage ich. „Und bei dir, Marie?“ Ich lenke schnell vom Thema ab, bevor es auffällt, dass mir das Blut in den Kopf schießt und meine Gesichtsfarbe etwas mehr ins rötliche geht.

„Cool, das Mädchen, das neben mir sitzt ist richtig nett“, erzählt sie mit vollem Mund, sodass man kaum etwas versteht.

„Wie heißt sie denn?“, frage ich und beginne ebenfalls zu essen.

„Chiara.“

„Schön. Offensichtlich hast du schon eine Freundin“, meint Sabine, „und du, Alice?“

„Na ja, in Bio sitze ich neben Finnie, die ist eigentlich sehr nett, aber im Klassenraum sitze ich neben Sina und die wird wohl nie meine Feundin werden“, sage ich. Ich weiß nicht, warum, aber von Ciaran erzähle ich nichts.

„Vielleicht könnt ihr eure neuen Freundinnen mal zu uns nach Hause einladen“, schlägt Thomas und Sabine nickt bestätigend.

Die Küche ist schon vollständig eingeräumt. Die Wände sind in einem warmen Orange gestrichen und eine große, doppelflügelige Glastür führt auf die Terrasse, die das Haus umschließt. Außerdem führt sowohl eine Tür in den Flur, als auch eine in das Wohnzimmer. An den Wänden hängen Familienfotos. Mal sind Marie und ich zu sehen, mal Thomas und Sabine, mal alle zusammen und mal einzelnd. Ein großes Fenster über der Spüle führt nach vorne. Von außen ist es das erste und einzige links neben der Eingangstür. Das gesamte Haus ist sehr geräumig, was es für mich einfach macht, überall ranzukommen und mich zurecht zu finden.

Den Nachmittag verbringe ich mit Hausaufgaben und Zimmer einräumen. Ich stelle viele Bilderrahmen mit Fotos von Elli, Laura, Markus und Simon auf mein Fensterbrett, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass mich ihr Anblick immer traurig machen wird. Hoffentlich schließt Thomas bald den Computer an, damit ich mit den anderen skypen kann. Am meisten macht es mir Spaß, die vielen Bücher in das Regal einzusortieren.

Als ich schließlich fertig bin, gehe ich mit meinem Zeichenblock hinten auf die Terrasse, wo noch Sonne ist. Dabei werde ich Zeuge eines wunderschönen Sonnenuntergangs. Der Himmel leuchtet in roten, orangen und blauen Farben und der Feuerball glüht förmlich.

Ich zeichne einfach drauf los, ohne mir vorher darüber Gedanken zu machen, was. Irgendwann schaue ich genauer hin und sehe, was, oder besser gesagt wen, ich gezeichnet habe. Allerdings gefällt mir das Bild noch nicht. Entweder die Augenbrauen oder Lippen. Oder ist es die Nase, die nicht getroffen ist? Ich komme zu dem Schluss, dass es der Ausdruck in seinen Augen ist, den ich nicht getroffen habe, aber ich weiß auch, dass man diesen nicht aus dem Gedächtnis in das Bild zaubern kann. Ich muss also bis morgen warten. Wenn ich ihn dann wiedersehe, heißt das. Mein Herz schlägt schneller, als mir in den Sinn kommt, dass das gar nicht unbedingt der Fall sein muss. Ich nehme mir fest vor, ihn morgen nach seiner Handynummer zu fragen, oder ob er einen Skypenamen hat.

„Willst du mit uns einen Film gucken?“ Ich zucke zusammen, als Sabine plötzlich hinter mir steht und presse meinen Block an meine Brust, damit sie nicht sehen kann, was ich gezeichnet habe.

„Ähm, nein, ich würde lieber noch ein bisschen den Sonnenuntergang genießen“, sage ich wahrheitsgemäß.

„Okay“, meint sie und geht wieder rein.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now