Kapitel 30

2.9K 203 18
                                    

Sie kann nicht schlafen, und das liegt nicht nur an dem Gewitter, was schon den ganzen Nachmittag am Horizont grollt. Hoffentlich wird es jetzt ein bisschen kühler. Ich glaube, jetzt, wo ihre Freunde weg sind, ist es noch schlimmer geworden. Heute ist sie früh ins Bett gegangen. Thomas und ich sitzen noch im Wohnzimmer und sehen uns einen Film an, als es das erste Mal passiert. Es kam bisher kein einziges Mal vor, dass jemand, den ich kannte, solch schreckliche Alpträume hatte, dass er davon schreiend aufgewacht ist. Thomas drückt auf Pause und ich springe sofort auf. Als ich ins Zimmer komme und das Licht an mache, sitzt Alice bereits aufrecht in ihrem Bett, das Shirt am Rücken nass geschwitzt und das Gesicht in den Händen vergraben. Sie zittert am ganzen Körper.
„Alice.“ Besorgt setzte ich mich ihr gegenüber auf das Bett. Sie hebt den Blick und ich sehe ihre von Angst und Schrecken geweiteten Augen. Tränen laufen ihr über die Wangen. Kurzerhand umarme ich sie. Thomas, der ebenfalls nach Alice sehen wollte, entfernte sich auf mein Nicken hin wieder. Nach einigen Minuten beruhigenden Rückensteichelns, hört Alice wieder zu zittern auf.
„Geht's jetzt?“, frage ich leise und sie nickt und lehnt sich wieder in ihre Kissen.
„Danke“, flüstert sie und ich stehe auf, mache das Licht aus und schließe die Tür.
„Was ist los?“, fragt Thomas, als ich ins Wohnzimmer zurückkomme.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich glaube Alpträume.“ Bedeutend sehe ich ihn an. Die Geschichte mit dem Unfall im Pool auf Finnies Party habe ich ihm bereits vor einigen Tagen erzählt. Er hat sich furchtbar darüber aufgeregt, aber ich habe ihn gebeten, nichts zu unternehmen.
Nach dem Film gehen wir ins Bett, aber lange können wir nicht schlafen. Dieses Mal schreit sie immer wieder einen Namen, den Rest kann ich nicht verstehen. Ciaran.
„Bleib ruhig im Bett“, sage ich zu meinem Mann, „ich kümmere mich darum.“ Damit stehe ich auf und mach mich auf den Weg nach unten.
„Es war so schrecklich“, flüstert sie, als ich in ihr Zimmer komme. „So furchtbar.“
„Sollen wir Ciaran anrufen?“, frage ich sie, aber sie schüttelt entgeistert den Kopf. „Weißt du, ich will dir helfen, aber ich weiß nicht, wie.“ Ich mache eine hilflose Geste.
„Es... es geht jetzt bestimmt“, sagt sie leise, aber ich bin nicht überzeugt. „Wirklich, Sabine, bisher hat es immer irgendwann geklappt.“
Ich seufze. Obwohl ich ihr noch immer nicht glaube, stehe ich wieder auf, um zurück zu Thomas zu gehen. Als dieser fragt, was war, zucke ich nur mit den Achseln. Die Müdigkeit überlagert die Sorgen und relativ schnell schlafe ich wieder ein.
Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es morgens um zwei. Mit halb geschlossen Augen torkel ich die Treppe runter, weil das Licht so hell ist, schnappe mir im Flur das Telefon und öffne die Tür zu Alice' Zimmer. Was muss dieses Kind für Alpträume haben.
Dieses Mal ist es am schlimmsten. Sie ist total aufgelöst und schluchzt.
„So, das reicht mir jetzt.“ Bestimmt setze ich mich auf ihr Bett. Sie sieht das Telefon und weiß sofort, was gemeint ist. Ich sehe im Telefonbuch nach und drücke auf grün.
Entsetzt schüttelt sie den Kopf. „Nein, was machst du? Wir haben mitten in der Nacht! Es gibt keinen Grund, ihn anzurufen! Mir geht es gut!“
„Nein, dir geht es nicht gut! Glaub mir, wenn man nächtelang nicht gut schlafen kann und dann auch noch Alpträume bekommt, vor allem wenn man sonst nie welche hat, dann geht es einem nicht gut. Ja, du hast richtig gehört: Ich weiß davon. Glaubst du, ich sehe das nicht? Ich hab dich aufwachsen sehen, ich bin deine Mutter.“
„Nein, bist du nicht!“, ruft sie und obwohl ich ihre Beziehung zu mir kenne, versetzen mir diese Worte dennoch einen schmerzhaften Stich. „Mag sein, dass du mich aufgezogen hast, aber du bist nicht meine Mutter! Meine Mutter ist tot!“ Sofort sehe ich die Reue in ihrem Blick, doch der Schmerz bleibt. Es erinnert mich an einen Spruch, den ich mal irgendwo gelesen habe: Worte sind wie Kiesel. Sie wühlen die Wasseroberfläche auf, wenn man sie in den See wirft. Irgendwann beruhigt sich die Oberfläche wieder, aber die Steine bleiben für immer am Boden liegen.
„Ich komme vorbei. Moment, in zehn Minuten bin ich da.“
Zuerst weiß ich nicht, woher die Stimme kommt, dann wird mir bewusst, dass es Ciaran am Telefon ist, aber da hat er schon aufgelegt. Es tutet eine Weile, bis ich auf Rot drücke.
„Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, Alice“, sage ich und ungewollt schleicht sich Verzweiflung in meine Stimme. „Ich würde dir so gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie. Und dann hast du seinen Namen gerufen und ich dachte, dass er dir vielleicht helfen kann. Manchmal ist familiäre Hilfe eben nicht genug. Vor allem, wenn sie nur von einer Tante kommt.“ In diesem Moment hasse ich die Bitterkeit in meiner Stimme. Ich will Alice nicht verurteilen oder ihr ein schlechtes Gewissen machen, aber ich kann nichts dagegen tun. „Tut mir leid“, schiebe ich noch hinterher. Aus Angst, noch mehr dumme Dinge zu machen, stehe ich auf und gehe, das Licht lasse ich an.
In der dunklen Küche setze ich mich an den Tisch und stütze meine Stirn in meine Handfläche. Langsam holt mich die Müdigkeit ein. So sitze ich da und hänge meinen Gedanken über die Nacht und Alice' Worte nach, bis es an der Tür klingelt. Wie erwartet ist es Ciaran. Sein Gesicht ist von Sorge zerfurcht und seine Haare sind noch ganz verstrubbelt, Tropfen vom Regen hängen darin. Es rührt mich, dass ihm Alice so viel bedeutet.
„Komm rein“, sage ich müde, „tut mir leid, dass ich dich aus dem Bett geklingelt habe.“
„Schon okay“, sagt er und geht schnurstracks zu Alice' Zimmertür. Mit der Hand über der Klinke verharrt er kurz. „Sie hat es nicht so gemeint, da bin ich mir sicher.“
„Ich auch“, sage ich leise und er betritt ihr Zimmer. Mit einem etwas besseren Gefühl mache ich mich wieder auf den Weg zu Thomas ins Bett.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now