Kapitel 41

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Am nächsten Tag regnet es schon wieder, aber wider aller Erwartungen ist meine Stimmung wieder auf dem Weg Berg auf. Vor allem, wenn ich nicht an das Gespräch mit Ole denke. Ich frage mich, ob er auch mit Sabine gesprochen hat.
Was meiner Laune ebenfalls einen Schub gibt, ist Ciarans Besuch. Ich habe gedacht, dass ich seine Gegenwart nicht gut aushalten könnte, nicht wegen dem, was ich weiß, sondern wegen dem, was ich verschweigen muss. Aber er spricht das Thema nicht an und es kommt auch gar nicht zu langen Schweigepausen, in denen ich viel darüber nachdenken könnte. Außerdem habe ich nichts anderes im Kopf, als, wie glücklich ich bin, in seinen Armen liegen zu dürfen.
Er streicht mit seiner Hand über meinen Arm. „Wie geht es eigentlich Markus, Simon und Laura?"
„Gut. Wir schreiben oft. Manchmal skypen wir auch. Simon und Laura haben fast dieselben Kurse gewählt. Ich freu nicht für sie, dass sie zusammen gekommen sind. Elli vermisse ich richtig. Sie habe ich ja so lange nicht mehr gesehen, sie war ja in den Ferien nicht da. Aber mit ihr konnte man immer so viel lachen. Klar, Finnie ist auch eine gute Freundin, aber das ist nicht dasselbe. Finnie ist mir irgendwie immer noch so fremd."
„Bis zur Hochzeit sind es ja zum Glück nur noch ein paar Wochen", meint Ciaran.
„Über zwei Monate", sage ich trocken.
„Ja, aber im Vergleich zu einem ganzen Jahr oder so?"
„Okay", seufze ich, aber es würde immer zu lange sein. „Ich bin froh, dass du da bist."
„Ich bin froh, dass du gekommen bist."
Ich lächele ihn an und er erwidert das Lächeln. Solche Momente könnten ewig dauern.
„Wer fährt dich zur Hochzeit?", fragt er dann.
„Sabine, nehme ich an. Sie wird Ellis Eltern bestimmt beglückwünschen wollen."
„Ach so." Ciaran nickt und lächelt. „Hast du mal wieder was gemalt?"
Ich hebe seufzend die Hand und lasse sie wieder auf Ciarans Brust fallen. „Wann denn? Morgens ist Schule und nachmittags Therapie. Die restliche freie Zeit verbringe ich mit dir."
„Ach so, ich nehme dir also die freie Zeit weg? Ich kann auch wieder gehen." Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„So war das nicht gemeint, und das weißt du ganz genau. Ich find's schön, wenn du da bist."
„Ja, ich weiß." Lächelnd streicht er mein Haar vom Gesicht weg über den Kopf. „Wir können auch was zusammen malen?"
„Du kannst malen?"
„Natürlich nicht. Meinst du, ich ruiniere das Bild?" Er schaut besorgt drein.
„Ja, ehrlich gesagt schon. Aber mir macht das nichts." Ich grinse verschmitzt zu seinem Gesicht hoch.
Mit Ciaran zu malen ist keine gute Idee. Plötzlich verwandelt er sich in ein kleines Kind. Er begutachtet jeden Pinsel mit größter Genauigkeit und mischt Farben zusammen, ohne dass man dahinter irgendeinen Sinn erkennen könnte. Zum Schluss malt er auf die Leinwand einen großen Kreis, zwei Punkte einen Halbkreis und jede Menge Striche. Anschließend dreht er sein Kunstwerk zu mir um. Ich kann wohl erkennen, dass es einen Menschen darstellen soll.
„Und?" Ciaran sieht mich breit grinsend an.
„Was und?"
„Wer ist das?"
Ich zucke mit den Schultern und rate. „Ich?"
„Wow, kann man das so gut erkennen? Ich sollte Maler werden, findest du nicht auch?"
Ich lache und deute dann auf's Bett. „Los, setz dich." Dann hole ich mir Farben und Pinsel, stelle die Staffelei zwischen uns und beginne, ihn abzumalen. Allerdings verschränkt Ciaran beleidigt die Arme vor der Brust, was mich erneut zum Lachen bringt. „Du musst lächeln. Ein Schmollmund macht sich nicht gut auf einem Portrait." Ich strecke mich und male ihn mit dem Pinsel an der Nase an. Daraufhin schenkt er mir das strahlendste Lächeln, das ich je bei jemandem gesehen habe, außer ihm natürlich, und das er nur für mich reserviert zu haben scheint. Natürlich dauert es einige Zeit, bis ich auch nur annähernd fertig bin, aber Ciaran sitzt geduldig auf meinem Bett und lächelt. Ich spüre seine Blicke unentwegt auf mir. Als ich in etwa fertig bin, zeige ich es ihm.
„Wow", sagt er und starrt es an. „Das ist toll. Aber es fehlt noch was." Er dreht die Staffelei zu sich um und nimmt Pinsel und Farbe. Er malt sicher doppelt so lang wie ich, und sein Ergebnis ist höchstens halb so gut, aber es rührt mich, was er gemalt hat. Diesmal hat er sich wirklich Mühe gegeben und mich sogar gut getroffen. Die Person, die ihren Kopf von hinten auf seine Schulter gelegt und die Augen geschlossen hat, sieht schon nach mir aus.
„Oh, Ciaran. Ich hätte auch die Augen zu machen können zum Abmalen."
„Ich habe dein Bild aber vollständig vor Augen gehabt. Dich beim Schlafen zu beobachten ist nämlich eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Na ja, nach dich küssen natürlich." Damit steht er auf und küsst mich. „Ich liebe dich."
„Ich dich auch", lache ich gerührt.

Nachdem er wieder weg ist, setze ich mich noch einmal an das Bild und bringe den letzten Feinschliff. Bestimmt bis Mitternacht sitze ich an unserem Bild, und Sabine hätte mir die Malsachen schon längst weggenommen, wenn sie das wüsste, aber ich will, dass es perfekt ist. Unser Bild. Ich schenke es Ciaran, als er das nächste Mal vorbei kommt.

Als er mir in der nächsten Woche sagt, dass er die nächste Zeit in eine Klinik geht, überrascht mich das nicht und irgendwie bin ich auch erleichtert. Ciaran scheint nicht erfreut darüber zu sein, aber er nimmt es so hin. Ich bin mir nicht sicher, ob Ole ihm den Grund genannt hat, mir gegenüber lässt er sich jedenfalls nichts anmerken und ich will nicht diejenige sein, die alles kaputt macht. Wir versprechen uns gegenseitig, uns in den nächsten Wochen besonders auf unsere Therapien zu konzentrieren und wenn wir uns wiedersehen, werde ich laufen können und Ciaran unabhängig sein. Ich bin nicht so blauäugig zu glauben, dass ich so schnell gesund werde, und ich glaube auch, dass Ciaran das nicht ganz ernst gemeint hat. Zum Abschied umarmen wir uns lange. Und dann ist er auf einmal weg.
Ich will nicht darüber nachdenken, dass er so lange weg sein wird, weshalb mir das Konzentrieren auf die Therapie gar nicht so schwerfällt, wie ich anfangs angenommen habe. Aber in der Schule ist es schlimm. Finnie ist zwar wieder gesund und wir quatschen die ganze Pause lang, aber Ciaran fehlt doch deutlich.
Als Finnie einmal auf der Toilette ist, setzt sich Zayne neben mir auf die Bank.
„Hey", begrüßt er mich.
„Hey", sage ich.
„Wo ist deine zweite Hälfte?"
„Ciaran kommt gleich", lüge ich, um ihn einzuschüchtern. Schließlich weiß ich nicht, was er vorhat, und wenn ich an unsere Anfänge denke...
„Alice, lüge nicht. Er ist schon die ganze Woche nicht da. Außerdem hat er dich bisher kein einziges Mal aus den Augen gelassen. Ich glaube nicht, dass er jetzt damit anfangen würde. Dass er nicht in der Schule ist, weiß ich, aber ich will wissen wo er sonst ist."
Ich komme zu dem Punkt, dass Zayne sich verändert hat. „Er ist in eine Klinik gegangen", gebe ich schließlich zu.
„Das ist gut", meint Zayne. „Und du?"
„Ich habe nie Drogen genommen. Ich hab noch nicht mal Alkohol getrunken, also insofern..."
„Ach so. Du bist viel zu gut für ihn."
„Ach ja? Das ist mir aber egal, denn ich liebe ihn. Außerdem kann er nichts für seine Vergangenheit, genau wie du." Nach einer kleinen Pause füge ich hinzu: „Es tut mir leid wegen deiner Mutter."
Er winkt ab. „Wir standen uns nie sehr nahe. Sie war meistens immer high, wenn wir zusammen waren. Unser Verhältnis war nie so gut. Außerdem ist das jetzt auch schon Jahre her."
„Trotzdem", meine ich, „vielleicht trauerst du nicht um diese Frau, sondern generell um eine Mutter. So eine Kindheit hat niemand verdient."
„Es hat mich gestärkt. Ich werde niemals Drogen verfallen, das hab ich mir geschworen. Um meinetwillen als auch um meiner Familie Willen." Er lächelt traurig.
Ich nicke.
„Ich hoffe auch für dich, dass er es schafft."
„Ich auch, danke."
Zayne steht auf und geht, gerade als Finnie von der Toilette wiederkommt.
„Was wollte er denn?", fragt sie verwirrt und wischt sich die Hände an der Hose ab.
„Nichts", antworte ich und sehe ihm nach. Er hat sich wirklich verändert.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now