Kapitel 42

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Wenn man es gewohnt ist, jemanden jeden Tag zu sehen, und ihn dann auf einmal wochenlang nicht mehr sehen kann, fragt man sich, wie man es die ganze Zeit ausgehalten hat, als man diesen Menschen noch nicht kannte. Das hatte ich bei Simon, Laura, Elli und Markus schon gemerkt, obwohl ich sie ja schon praktisch mein ganzes Leben kannte, und nun bei Ciaran war es nicht anders. Vier ganze Wochen hatten wir uns schon nicht mehr gesehen und hatten nicht mal telefoniert, weil die Regeln in der Klinik so streng waren. Aber heute werden wir ihn vom Bahnhof abholen. Als Ciaran abreiste mussten wir auch Thomas erklären, was es damit auf sich hat. Er war nicht sehr begeistert, dass ich mit ihm zusammen war und vor allem, dass wir ihm nichts von seiner Sucht erzählt hatten. Aber Sabine besitzt glücklicherweise ein Talent dafür, andere zu beruhigen und gleichzeitig von ihrer Sichtweise zu überzeugen.
Grace holt mich ab, damit wir gemeinsam zum Bahnhof fahren können. Sie trommelt bei jeder Ampel oder Kreuzung, an der wir halten müssen auf dem Lenkrad herum und bläst sich immer wieder verirrte Strähnen aus dem Gesicht.
„Ich hoffe so, dass es ihm gut geht“, sagt sie und seufzt.
Ich spüre, dass ihr noch mehr auf dem Herzen liegt, sie aber nicht sicher ist, ob sie es sagen sollte, also frage ich sie: „Ist alles okay?“
Sie schweigt kurz. „Nein. Ich... hab das Gefühl, ich sei Schuld an seinem Drogenproblem. Ich glaube, ich habe ihm nach dem Tod unserer Eltern nicht genug gezeigt, dass ich auch noch da war. Ich war nicht genug für ihn da. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde... würde ich...“ Sie lässt den Satz in der Luft hängen, um die Schluchzer zu unterdrücken, die sich einen Weg ihre Kehle hinauf zu bahnen drohen. Sie schluckt, dann fährt sie fort. „Es ist einfach, meine Handlung meinem Alter zuzuschieben. Ich war lange noch nicht erwachsen, nicht wirklich. Zu wenig Erfahrung, was weiß ich. Aber darin die Schuld zu suchen ändert auch nichts an der jetzigen Situation. Die Schuldgefühle kann ich trotzdem nicht unterdrücken und die Reue nicht einfach ausschalten. Ich will damit abschließen, aber ich weiß genau, dass ich das nicht werde tun können, wenn Ciaran das nicht auch tut. Ich... ach, keine Ahnung.“ Sie schlägt auf das Lenkrad.
„Vielleicht solltest du das nicht mir erzählen, sondern Ciaran“, sage ich, ohne um den heißen Brei herumzureden.
„Ich weiß.“ Sie schaut kurz zu mir herüber. „Aber ich habe Angst, mich vollständig mit ihm zu zerstreiten.“
„So ist Ciaran aber nicht“, erwidere ich. „Du bist ihm wichtig, da bin ich mir sicher.“
Sie denkt kurz nach. „Ich sehe ihn immer vor mir, fünfzehn Jahre, aber schon mit so viel Schmerz im Blick. Und Wut. Auf mich, weil ich nicht trauerte.“ Grace zuckt hilflos mit den Schultern.
„Versuch es“, sage ich bestimmt. „Sonst wird auch er nicht abschließen können, was seiner Heilung im Weg stehen könnte.“
Sie nickt. Ich kann nur hoffen, dass sie das auch wirklich durchzieht, wenn er wieder vor ihr stehen wird.

Grace ist der Meinung, dass es einfacher wäre, wenn ich im Auto bliebe, und widerwillig muss ich ihr Recht geben.
Wenn man auf dem Land lebt, gibt es nicht in jedem Dorf einen Bahnhof und dieser ist auch entsprechend klein. Man parkt praktisch direkt neben dem einen Gleis und so kann ich Grace prima beobachten, wie sie sich auf die eine Bank setzt. Außer ihr ist noch eine alte Dame da, die mit einer Zigarette im Raucherbereich steht und sich auf ihren großen Koffer stützt. Obwohl es nicht derselbe Bahnhof ist, an dem Laura, Simon und Markus gekommen und wieder gefahren sind, erinnert es mich dennoch daran. Ich sehe auf die Uhr. Wir sind sowieso schon zehn Minuten zu früh, und womöglich kommt der Zug noch mit Verspätung. Ich versuche nicht dauernd auf die Uhr zu schauen, aber jedes Mal, wenn ich denke, es wären nun einige Minuten vergangen, sind es meist nur zwei oder so. Nach schier endlosen fünfzehn Minuten kommt der Zug endlich eingefahren. Ciaran ist einer der ersten, die aussteigen, wobei es sowieso nicht viele sind. Grace springt sofort auf und umarmt ihn fröhlich. Nun ist sie wieder die perfekte Schwester, die sie sowohl Ciaran als auch sich selbst vorspielt. Ich kann nur den Kopf schütteln.
Die alte Frau wirft ihre Kippe auf den Boden und geht mit dem Koffer zu der offenen Zugtür. Ciaran hilft ihr, das Monstrum die Treppe hinauf zu wuchten, greift dann nach seiner eigenen Tasche und kommt mit Grace auf das Auto zu. Ciarans Tasche ist zum Glück nicht allzu groß, sodass sie noch neben den zusammen geklappten Rollstuhl passt. Nachdem er sie verstaut hat, macht er die Beifahrertür auf. Ich strecke die Arme nach ihm aus und schlinge sie um seine Hüfte. Er stützt sich mit dem einen Arm auf dem Sitz auf und drückt mich mit dem anderen fest an sich. Für den Moment will ich gar nicht wissen, wie es in der Klinik war. Für den Moment bin ich einfach nur glücklich, ihn wieder zu haben.
Auf der Heimfahrt erzählt er fröhlich, was er erlebt hat. „Dr. Kiesing meinte, dass ich auf einem guten Weg bin. In den ersten Tagen war es wirklich furchtbar. Aber als sich mein Körper und mein Geist dann schließlich dran gewöhnt haben, hörte es auf. Das Gute war, dass ich schon den Willen hatte, aufzuhören. Ich musste praktisch nur noch über die Bergkuppe, aber die letzten Tage hatte ich überhaupt keine Anfälle mehr. Ich glaube wirklich, dass ich es geschafft habe, das ist ein tolles Gefühl. Ich meine, ich werde noch weiterhin zu Ole gehen, sonst hätten sie mich bestimmt nicht so früh entlassen, aber...“
Ich strecke meine Hand nach hinten und er nimmt sie und hält sie fest. Ich kann es noch nicht ganz fassen, dass es jetzt vorbei ist. Es waren zwar vier wirklich lange Wochen, aber von dem Kampf habe ich nichts mitbekommen und an diese neue Situation werde ich mich erst noch gewöhnen müssen. Ich habe es in der Zeit lange nicht so weit geschafft wie er, aber ich spüre, dass ich nun ein gutes Stück Motivation dazubekommen habe.

Wir fahren zuerst bei uns vorbei, damit Ciaran auch Sabine begrüßen kann. Sie hat sogar einen Kuchen gebacken, und Grace und er bleiben gerne noch für ein Stück da. Die meiste Zeit wird über seine Therapie geredet und er erzählt von witzigen Erlebnissen und anderen Leuten, die er kennengelernt hat. Mir wird bewusst, dass das, was ich von ihm kenne, noch lange nicht alles ist. Natürlich hat er Freunde außer Finnie und mir, natürlich hat er eine Vergangenheit, die nicht nur aus Problemen besteht, natürlich bin ich nicht alles in seinem Leben. Wie ich Elli, Simon, Markus und Laura habe, wie ich eine Schule in meiner Vergangenheit habe und eine glückliche Zeit, so kann auch sein Leben nicht ausschließen von Schatten und Dunkelheit umhüllt sein. Er ist ein netter und offener Mensch und das werde jawohl nicht nur ich bemerkt haben. Ich weiß auch, dass ich trotzdem eine sehr wichtige Rolle in seinem Leben spiele, zwar noch nicht lange, aber trotzdem, und deshalb keinen Grund für Eifersucht habe, die ich nicht ganz unterdrücken kann. Und wenn ich darüber nachdenke, bin ich eigentlich auch froh, dass er ein Leben hat. Ein richtiges und erfülltes Leben.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteDonde viven las historias. Descúbrelo ahora