Kapitel 47

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-Hallo Leseratten,
Viele euch sind nicht zufrieden mit der Wandlung, die die Geschichte genommen hat, weshalb ich versuchen will, es ein bisschen zu erklären. Es ist nicht nur, weil dieses Ende hier schon vor einem Jahr feststand, als ich mir die Geschichte ausgedacht habe (Ich weiß noch genau, wo in dem Moment war;)), sondern viel mehr, weil jede und ganz besonders diese Geschichte ein Ende braucht. Sie kann nicht ewig fortlaufen, und das sollte sie auch nicht. Hättet ihr lieber ein Happy End gehabt nach dem Motto „und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“? Hätte das denn gepasst? Ich finde nicht. Und wenn ihr es lieber so gehabt hättet, tut mir das ehrlich leid. Ich hoffe dennoch, dass ihr weiterlest. Ein Zurück gibt es schließlich so oder so nicht mehr...
Viel Spaß beim Lesen!

Euer readerbunny01-

Den MRT habe ich nun hinter mir. Alles, was ich machen musste, war, zwischendurch den Atem anzuhalten oder schneller zu atmen oder dergleichen. Dadurch, dass ich mich sowieso so gut wie gar nicht bewegen kann, war es keine große Sache. In letzter Zeit ist mir sowieso ziemlich viel egal.
Marie und ich sitzen auf dem Bett und spielen Mensch-ärgere-dich-nicht, wobei Marie sowohl für mich würfelt, als auch für mich zieht, aber das scheint ihr wenig auszumachen. Ich sage ihr bloß, welchen meiner Männchen sie vorziehen soll. Beim Spielen erzählt mir Marie, was in der Zwischenzeit vorgefallen ist, besonders von Sabines Tumor und Operation, aber sie versichert mir, dass nun wieder alles in Ordnung sei. Am Ende gewinne ich. Es ist schon relativ spät am Nachmittag, weshalb Thomas und Sabine bald heimfahren wollen. Meine Schwester packt das Spiel zusammen.
„Marie?“, frage ich, als sie schon aufgestanden ist.
„Hm?“ Sie blickt mich fragend an.
„Kannst du Ciaran fragen, ob er nicht vielleicht noch mal vorbeikommen will?“
Sie bekommt große Augen, was mit der Mütze ein sehr süßer Anblick ist. „Aber Alice. Ciaran ist doch tot“, sagt sie entrüstet.
„Ach ja, richtig. Tut mir leid, ich hatte es kurz vergessen.“ Ich zwinge mich zu einem entschuldigenden Lächeln. „Tja, dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend.“
„Danke, aber Mama und Papa wollen bestimmt auch noch Tschüss sagen. Tschüss Alice.“ Mit diesen Worten hüpft sie davon.
„Seit wann?“, frage ich Thomas und Sabine, als sie sich von mir verabschieden. Ich muss gar nicht sagen, was ich meine.
„Vor sechs Wochen etwa war die Beerdigung“, sagt Thomas leise, den einen Arm hat er um Sabines Schultern gelegt. Ich nicke.
„Na dann, bis morgen, Süße“, sagt Sabine und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Thomas streicht mir kurz über den Kopf, bevor sie gehen. Ich schließe die Augen und warte. Er kommt tatsächlich. Sein Blick ist allein auf mich gerichtet, als er seine Hände nach mir ausstreckt.
„Hey“, sage ich lächelnd.
„Hey“, erwidert er mit dunkler Stimme. Er beugt sich vor und küsst mich. Ich vergrabe meine Hand in seinem Haar.
„Endlich bist du da, Ciaran.“

Der Schnee liegt bereits einige Zentimeter hoch, als Finnie mit mir und Marie im Krankenhausgarten herumschlendert. Ich sitze in einem vom Krankenhaus vorerst geliehenen Rollstuhl mit Gurten, die verhindern, dass ich vornüber kippe. Außerdem muss ich zur Sicherheit eine Nackenrolle tragen. Die Wege des Gartens sind geräumt und gestreut. Im Frühling und im Sommer sprießt er wahrscheinlich von bunter Blumenpracht, aber jetzt im Winter sind die wenigen Hecken und Sträucher, die noch ihre Blätter haben, unter dem pulvrigen Schnee verborgen. Von jeder Mauer, an der wir vorbeikommen, wischt Marie den Schnee hinunter, obwohl sie keine Handschuhe trägt. Ich beneide sie um ihre kindliche Unbekümmertheit. Es ist das erste Mal, dass ich aus dem Krankenzimmer rauskomme. Auch wenn ich nie gedacht hätte, dass ich das jemals sagen würde, waren mir diese vier Wände wie ein Schutzwall vor der Wirklichkeit. Doch hier draußen scheint der Traum immer realer zu werden. Die Schneeflocken, die mir ins Gesicht schneien, sind kalt und tauen auf meiner Haut, bevor sie meine Wangen hinunterlaufen. Vielleicht sind es auch Tränen. Eigentlich habe ich die letzten Tage nicht viel geweint, deshalb kann ich es nicht genau sagen, aber im Moment fühle ich mich, als könnte ich heulen. Um die Vergangenheit und meine verlorene Zeit und meine verpasste Gelegenheit. Die Enttäuschung, die mich jeden Morgen befällt, wenn ich merke, dass er gar nicht wirklich da war, wächst mit jedem Tag mehr, und die schlaflosen Nächte, wenn mich doch mal Zweifel wecken, mehren sich ebenfalls. Obwohl ich ab dem Hals noch immer nichts spüre, lastet es schwer auf meiner Brust. Ich kann es nicht benennen, aber es engt mich ein, drückt mir manchmal die Luft ab. Tja, hätte ich noch die kindliche Unbekümmertheit, die ich vor zwölf Jahren gehabt hatte, hätte ich einfach gehäult. Wenn ich mir sage, dass er nicht mehr lebt, erfasse ich es meist nicht richtig, es ist dann viel unwirklicher. Aber wenn ich mir bewusst mache, dass er schon über einen Monat tot ist, und ich die ganze Zeit nichts davon wusste, nichts gespürt habe, dass er nicht mehr bei mir war, werde ich so verzweifelt, dass ich am liebsten schreien würde. Ja, Verzweiflung ist es, was mich gefangen hält und nicht mehr loslässt.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, bricht Finnie irgendwann die Stille, die sich in meinen Gedanken eingenistet hat.
„Ich auch nicht“, murmele ich.
„Ich war nicht eifersüchtig auf dich, Alice, aber ich hab ihn geliebt.“ Ich höre an ihrer Stimme, dass sie weint. Vielleicht ist ihre Nase aber auch nur wegen der Kälte zu.
„Ich weiß“, sage ich. Ich mache es ihr nicht leicht, aber das ist keine Absicht. Wenn ich länger drüber nachdenke, bin ich sogar froh, dass sie da ist. Ich wollte jetzt nicht mit Elli, Laura, Markus oder Simon zusammen sein. Sabine hat mir erzählt, dass sie bei der Beerdigung da waren und mich auch besucht haben. Ich war es nicht, mal wieder. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie an ihrer statt mit mir durch den verschneiten Krankenhausgarten liefen. Finnie teilt wenigstens ein Stück weit meine Beziehung und mein Leid. Außerdem bin ich froh, dass die Szenerie so trostlos ist. Ich brächte es nicht über mich, mich nun buntem Trubel auszusetzen.
„Finnie?“
„Ja?“
„Kannst du Marie zurück zu Sabine bringen und wiederkommen, bitte?“ Wenn ich ehrlich mit mir bin, regt mich ihr kindliches unbekümmertes Verhalten auf.
„Klar. Marie, kommst du mit?“ Finnie streckt meiner Schwester die Hand hin.
„Och, wieso denn? Ich will noch im Schnee spielen“, quengelt sie.
„Bitte, Marie. Es ist mir wichtig“, klinke ich mich ein.
Marie lässt resigniert den Kopf hängen. „Na gut.“
Ich warte, bis die beiden hinter der nächsten Hecke verschwunden sind, dann lege ich den Kopf in den Nacken und blicke in den Himmel. Die vereisten Flocken schmerzen in meinen Augen, aber ich schließe sie nicht. Vereinzelte Tränen rinnen aus meinen Augenwinkeln. Es dauert nicht lange, bis Finnie zurückkommt.
„Danke“, sage ich.
„Kann ich sonst noch was für dich tun?“, fragt sie besorgt.
„Nein“, erwidere ich, „ich möchte einfach nur weinen.“ Ich schaue sie an und nun laufen die heißen Tränen nicht mehr wegen der Schneeflocken. „Versuche nicht, stark zu sein“, bitte ich sie. „Weine mit mir.“ Aber das muss ich nicht mal mehr sagen. Sie setzt sich mit ihrem Parker auf eine verschneite Bank, sodass wir auf Augenhöhe sind und lässt ihrer Trauer freien Lauf. „Ich kann es nicht fassen“, schluchze ich. „Ich weine, aber ich kann es trotzdem nicht fassen. Ich habe ihn geliebt und ich liebe ihn immer noch. Er ist und bleibt mein Freund und mein Zuhause. Das wird er immer sein.“
„Das sollte es aber nicht“, meint Finnie. „Du musst ihn loslassen.“
„Das weiß ich, aber ich kann nicht. Noch nicht. Vielleicht nie.“
„Doch, davon bin ich überzeugt.“ Sie streckt ihre Hand aus und legt sie an meine Wange. Dann beugt sie sich vor und legt ihre Stirn an meine. Wo verharren wir eine Zeit, während weitere Tränen in den Schnee und auf unsere Kleidung tropfen. Als sie mich in eine Umarmung schließt, streifen ihre Lippen meine. Der Kuss bedeutet etwas ganz anderes, als wenn mich Ciaran geküsst hat, und gleichzeitig dasselbe. Es ist ein Zeichen des Verständnisses, aber es ist auch das Versprechen, mich zu unterstützen und nicht allein zu lassen.
„Danke“, flüstere ich. Ich glaube, dass ich mir nun endlich sicher sein kann, dass ich in Finnie eine wahre Freundin gefunden habe. Ein bisschen Glück in der Finsternis. Ein bisschen Bunt im Schnee.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now