Kapitel 35

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Ich rufe Finnie an, damit sie was mit mir unternimmt. Denn wenn ich den ganzen Tag zu Hause sitzen muss, habe ich Angst, vor Sehnsucht durchzudrehen, auch wenn das ziemlich schnulzig klingt. Finnie freut sich, dass ich anrufe und wir entscheiden uns, uns bei ihr zu treffen. Thomas fährt mich natürlich gerne hin, da er froh ist, dass ich mich mal nicht nur mit Ciaran treffe. Am Nachmittag sitzen wir draußen bei ihr im Garten bei selbstgemachtem Eistee, eine Spezialität ihrer Mutter, und kalter Limonade und schauen uns das Fotoalbum an, das Ciaran ihr zum Geburtstag geschenkt hat. Es sind Bilder von ihm und ihr eingeklebt und bei vielen steht ein Datum oder eine Überschrift, manchmal sogar ganze Textzeilen. Man sieht, wie gern er sie haben muss und es versetzt mir einen Stich, obwohl ich weiß, dass er mich liebt. Die beiden haben dieselbe Verbindung, fällt mir auf einmal ein, wie Simon und ich, und ich kann es gut verstehen, wieso Finnie in ihn verliebt war.
Als wir fertig sind, malen wir zusammen. Es ist ungewöhnlich, etwas mit jemandem zusammen zu machen, das man normalerweise alleine macht. Es macht noch mehr Spaß. Dabei erzählt mir Finnie von Leonard. Wie viele Geschenke er ihr macht, wie lieb er ist und problemlos, und wie sehr sie ihn liebt. Sie erzählt auch, er hätte sie gefragt, ob wir nicht mal zu viert ausgehen könnten. Leonard, Finnie, Ciaran und ich. Ich reagiere zuerst etwas verhalten, aber sie kann mich zumindest dazu überreden, dass ich Ciaran frage.

„Der Tag war echt schön", sage ich und Finnie beugt sich zu mir, um mich zu umarmen, „vielen Dank."
„Ja, finde ich auch", bestätigt sie und richtet sich wieder auf. „Das sollten wir mal wiederholen. Tschüss."
„Tschüss", verabschiede ich mich und rolle zu Thomas und dem Auto. Thomas hebt mich hinein und verstaut den Rollstuhl, bevor er einsteigt.
„Und, war's schön?", fragt er interessiert, als er losfährt.
„Ja, sehr schön."
„Siehst du, es muss nicht immer dieser Junge sein. Und du solltest die Beziehung zu ihr nicht vernachlässigen", meint er.
Ich grinse und beiße mich auf die Lippe. Es macht mich froh, dass er so reagiert wie ein richtiger Vater. Er will mich beschützen und nicht in die große weite Welt lassen. Aber ich weiß auch, dass ich gar nicht anders kann, als mit Ciaran zusammen zu sein, weil ich in irgend einer Weise abhängig von ihm bin. Und ich glaube auch, dass das auf Gegenseitigkeit beruht.

Am nächsten Morgen stehe ich um halb sieben auf, um zu duschen und meine Sachen zu packen. Ich ziehe mir eine lange Hose und ein T-Shirt an und stelle meine Turnschuhe bereit. Dann schmiere ich uns für den Tag noch ein paar Brote und packe auch eine Dose mit dem Kuchen ein, den Sabine gestern gemacht hat. Um zehn vor Acht bin ich fertig, gerade, als Sabine aufsteht. Ich habe ihr zwar gestern schon Bescheid gesagt, dass ich heute weg sein werde, aber so kann ich mich zumindest noch von ihr verabschieden. Um fünf vor acht steht Ciaran vor der Tür und ich freue mich riesig, ihn zu sehen. Ich stecke noch ein bisschen Geld ein, umarme Sabine und rolle raus.
Ciaran sieht richtig glücklich aus. Man sieht ihm an, dass er sich auf den Tag freut. Er hat es sogar so eilig, endlich weg zu kommen, dass er vergisst, mich zur Begrüßung zu küssen. Aber ich lasse mich von seiner Vorfreude anstecken und deshalb macht es mir nichts aus. Ohne groß rumzureden fahren wir los.
„Du willst mir sicher nicht erzählen, wo wir hinfahren?", frage ich zum gefühlt hundertsten Mal.
„Ja, ganz sicher nicht", antwortet er schadenfroh. Ich verschränke beleidigt die Arme und schaue aus dem Fenster. „Och, Alice, da kann man dir ja fast nicht widerstehen."
„Das war auch Sinn der Sache", lache ich und setze mich wieder normal hin. Wir witzeln eine Weile so weiter, bis Ciaran unerwarteterweise auf einen Autobahnparkplatz fährt. Ich hätte nicht gedacht, dass das sein Ziel ist. An solch einem Parkplatz ist ja nicht wirklich viel Spannendes. An diesem gibt es nicht mal eine Tankstelle, so klein ist er.
„Aha, hierauf hast du dich also so gefreut. Das ist mein Geburtstagsgeschenk? Ein Tag auf einem Parkplatz?", frage ich ironisch.
„Nein, der Abstecher war spontan."
„Und was machen wir hier?"
„Also, ich weiß nicht, was du machst, aber ich hatte gerade große Lust, dich zu küssen", meint er leise lächelnd, schnallt sich ab und wendet sich mir zu.
„Dann weiß ich auch, was ich machen werde", flüstere ich und sehe ihm in die Augen. Mein Herz beginnt sofort wild zu flattern, als ich die Liebe in ihnen sehe, die genauso gut aus meinem Herzen kommen könnte. Er beugt sich vor und küsst mich sanft, ganz sanft. Zuerst schließe ich die Augen und genieße nur, doch irgendwann wird das Verlangen zu stark und ich erwidere den Kuss, indem ich meine Hand an seinen Kopf lege und ihn noch fester zu mir ziehe. Ich atme tief seinen Duft ein. Mein ganzer Körper ist wie elektrisiert. Der Kuss wird immer wilder und leidenschaftlicher, bis plötzlich jemand an das Fahrerfenster klopft. Ciaran dreht sich um und auch ich sehe in die Richtung. Ein junger Mann mit Dreadlocks und einer Bierdose in der Hand ruft eine obszöne Bemerkung, die ich nicht verstehe und hält grinsend den Daumen hoch. Ciaran und ich sehen uns an und beginnen beide in selben Moment an zu lächeln. Er lässt sich zurück in seinen Sitz fallen und schnallt sich an.
„Fahren wir weiter", sagt er und dreht den Schlüssel.
Ich habe die Sache mit dem Geschlechtsverkehr und den Querschnittsgelähmten noch nicht überprüft, aber ich hoffe, dass Ciaran recht hat. Eben bei unserem Kuss war der Wunsch, ihm so nahe zu sein zum Verzweifeln stark. Ich frage mich, ob es ihm genauso ging und schaue kurz zu ihm rüber. Er sieht nicht aus, als wäre nicht alles so gelaufen, wie er wollte, während ich ein bisschen enttäuscht bin, irgendwie leer. Will er vielleicht gar nicht mit mir schlafen? Das kann ich mir irgendwie auch nicht vorstellen. Klar, ich bin gelähmt, aber ich bilde mir zumindest ein, dass ich Ciaran so gut kenne, um zu wissen, dass ihm das nichts ausmacht, oder es ihm wenigstens nicht wichtig ist. Ich seufze in mich hinein. Irgendwann werde ich mir darüber hoffentlich keine Gedanken mehr machen müssen.

Wir legen den Rest der Fahrt schweigend zurück. Erst gegen halb zwölf hält Ciaran auf einem kleinen Parkplatz, der von Gebüsch umrahmt ist.
„Alice?"
„Ja?"
„Wir sind zwar jetzt den weiten Weg hier her gefahren, aber das heißt nicht, dass wir das unbedingt machen müssen. Wenn du es nicht willst, sag es mir bitte, okay?"
Ich muss lächeln. „Wie soll ich dir sagen, ob ich was dagegen habe oder nicht, wenn ich nicht mal weiß, was es ist?"
„Das wirst du gleich sehen. Ich will nur, dass du weißt... Ich will dich zu nichts zwingen, ja?" Er sieht mir fest in die Augen. Ich nicke. „Okay." Damit steigt er aus, um den Rollstuhl aus dem Kofferraum zu holen. Wenig später schiebt er mich über einen zweiten Zugang zum Parkplatz zu einer Aussichtsplattform bis ans hölzerne Geländer. Mir bleibt der Atem weg. Vor uns breitet sich ein tiefes und weites Tal aus, an dessen steilen Hängen sich Felsen und Grünzeug abwechseln. Die Sonne strahlt mit Ciaran um die Wette und der Himmel ist strahlend blau. Aber das ist es nicht, was mich sprachlos macht. Weit über dem Tal gleiten an die hundert Gleitschirme durch die Luft. Bunte Punkte, die sich von dem Blau des Himmels abheben. Ein Anblick voll Ruhe und Eleganz.
„Das ist es? Das willst du mir schenken?", frage ich gerührt. Meine Stimme verabschiedet sich fast.
„Du wolltest doch immer mal fliegen, oder?"
„Ja", flüstere ich und muss mir eine Träne aus dem Augenwinkel wischen.
„Okay, los geht's."
Als wir am Startpunkt ankommen, ist schon alles vorbereitet und wir werden bereits erwartet. Ciaran begrüßt zwei weitere Männer mit vertrautem Handschlag. Der eine hat kurzes, braunes und lockiges Haar und der zweite blondes, kurzes. Beide sind ungefähr so groß wie Ciaran.
Ciaran stellt uns einander vor. Der Blonde heißt Jakob und der Braunhaarige Stefan und sie werden uns beim Start helfen, da ich ja nicht selbst anlaufen kann. Ciaran geht noch mal auf die Toilette, während Jakob und Stefan mich einweisen. Überrascht erfahre ich, dass Ciaran schon seit er ein kleines Kind ist regelmäßig hier her kommt, um zu fliegen. Noch etwas, das ich bisher nicht von ihm wusste.
Als er wieder da ist, geht es los. Jakob und Stefan halten den Gleitschirm an den Tragegurten fest, während mich Ciaran in den Sitz setzt und festschnallt. Anschließend stellt er sich hinter mich in seine Tragegurte und zieht alle Riemen fest. Er hat außerdem noch ein Headset auf, damit wir mit Jakob und Stefan in Kontakt bleiben können, wenn wir wieder landen wollen. Dann laufen auf Drei alle drei los. Der Wind verfängt sich im Schirm und bald ist das Gras einen Meter von meinen Füßen entfernt, dann zwei, und dann schweben wir über die Felskante hinweg und der Boden fällt mehrere hundert Meter tief ab. Wir fliegen. Wahnsinn.
So weit das Auge reicht, ist alles ganz klein, und es reicht weit. Fünf kleine Dörfer kann ich zählen. Dazwischen Wälder und Felder und Wiesen und Seen. Unter uns im Tal fließt ein kleiner Bach, dessen Wasser die Sonne reflektiert, nur so können wir ihn sehen. An den Ufern des Baches gibt es Wiesen mit vielen Blumen und ein paar Bäume stehen auch dort und recken ihre Äste, als wollten sie nach uns greifen. Aber wir fliegen immer weiter in die Luft, immer weiter nach oben, den Wolken entgegen.
Viele, denen ich meinen Traum vom Fliegen erzählt habe, haben innerlich den Kopf geschüttelt. Manche haben mir sogar sogar gesagt, wie verrückt die Idee wäre. Ich solle mir doch erst mal wünschen, laufen zu können, ehe ich mir das Fliegen wünsche. Aber für Leute wie mich ist es leichter, so einen Wunsch zu erfüllen, das Laufen unmöglicher als das Fliegen. Außerdem ist Träumen manchmal das einzige, das noch geht, und das wollte ich nicht aufgeben, niemals. Und Ciaran hat mir diesen Traum erfüllt, wofür ich ihn umso mehr liebe. Ich fühle mich vollkommen sicher mit ihm im Rücken, denn, wie sich bereits beim Schwimmen gezeigt hat, ist er einer der wenigen Menschen, denen ich blind vertrauen würde.
Ich schließe die Augen. Ab und zu schiebt sich der Schatten unseres Schirms über uns, aber sonst scheint die Sonne. Ich bin froh, eine Sonnenbrille aufzuhaben.
Der Wind weht mein Haar durcheinander und ich kann fast ausblenden, dass ich irgendwo drin sitze. Das muss das Gefühl von Freiheit sein, das ich vermutlich nie werde erfahren können, es sei denn, Ciaran nimmt mich noch einmal mit in die Lüfte. Vogelfrei. Ich beneide ihn darum. Den Vogel, dass er jederzeit in die Luft darf und Ciaran, dass er ebenfalls die Wahl hat. Unabhängig. Aber in diesem Moment beneide ich niemanden. In diesem Moment bin auch ich frei.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now