Kapitel 4

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Als wir in der Mittagspause sitzen, habe ich den richtigen Moment noch immer nicht gefunden, ihnen von dem Umzug zu erzählen. Hab ich gesagt, es sei nicht so schlimm, meine Freunde auf einer anderen Schule zu haben, weil wir ja immer noch über Skype in Kontakt bleiben könnten? Das stimmt nicht. Nie wieder würden zusammen am Mittagstisch sitzen und über belangloses Zeug reden. Nie wieder über Herr Hohlbein lästern. Uns nie wieder gegenseitig ärgern. Ich würde nie wieder darüber schmunzeln, dass Markus immer die Deutschhausaufgaben bei Simon abschreibt. Nie wieder mit Laura belustigte Blicke tauschen. Nie wieder...
„Alice?“ Ich schaue auf. Elli sieht mich besorgt an. „Ist alles in Ordnung?“
Ich schaue in die Runde. Alle sehen mich an, sogar Markus, den man sonst nicht vom Abschreiben unterbrechen kann. Dann ist der Moment wohl jetzt gekommen. Ich hole tief Luft.
„Meine Eltern wollen umziehen.“ So, jetzt ist es raus. Ich kann auf einmal genau nachvollziehen, wie sich Thomas gefühlt hat, als er es Marie und mir erzählt hat.
Keiner sagt ein Wort. Ich esse weiter, schaue auf meinen Teller, um die Tränen möglichst zurückzuhalten. Ich schaffe es nicht. Ein kleiner Tropfen löst sich aus meinen feuchten Wimpern und rollt meine Wange hinunter. Na toll, jetzt habe ich die gute Stimmung zerstört.
„Warum?“, fragt Markus, der als erster seine Stimme wiederfindet.
„Wegen der Arbeit“, sage ich, um einen möglichst unbeschwerten Ton bemüht. Dabei schaue ich aus dem Fenster, damit niemand mein tränennasses Gesicht sieht. Als ich denke, dass ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle habe, versuche ich, mir so unauffällig wie möglich die Wangen abzuwischen. Ich weiß ganz genau, dass es allen auffällt, besonders Simon, der mir gegenüber sitzt, aber sie sagen nichts. Vielleicht, weil sie meine Trauer genau nachempfinden können.
„Aber du kommst doch zur Verlobungsfeier am Sonntag, oder?“, fragt Elli und ich nicke.
„Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen“, sage ich und lächele, doch das Lächeln erreicht meine Augen nicht.

Die Atmosphäre wird den ganzen Tag nicht besser und als ich wieder zu Hause ankomme, bin ich ganz erschöpft. Thomas und Sabine packen schon die ersten Sachen in der Küche in Kartons.
„Wann wollt ihr denn umziehen?“, frage ich überrascht, als ich in den gelb angestrichenen Raum fahre.
„Übers Wochenende. Am Montag sollt ihr schon in die neue Schule gehen können“, meint Sabine, während sie einen Großteil des Bestecks in einen kleinen Karton packt. Wir haben Donnerstag. Das bedeutet, dass morgen der letzte Schultag sein wird.
Ich drehe um und rolle in mein Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Dabei habe ich mir solche Mühe mit meinen Geschichtshausaufgaben gegeben. Wir haben, oder besser gesagt hätten, aber erst am Montag wieder Geschichte. Das ist natürlich nicht mein größtes Problem, aber plötzlich machen mich solche Kleinigkeiten traurig. Es ist verrückt. Ich kann auf einmal nachvollziehen, wie es sein muss, wenn man Abitur macht und von der Schule geht, seine Freunde aber woanders hingehen, als man selbst und man sie nur noch selten sieht.
Ich schüttele den Kopf über meine selten dämliche Sentimentalität. Es ist schließlich kein Abschied auf ewig.
Ich mache mir lieber darüber Gedanken, was ich zur Verlobungsfeier von Ellis Eltern anziehen soll. Um mich abzulenken, rufe ich Elli und Laura an. Sie sind sofort einverstanden und wollen zu mir kommen, damit wir sämtliche Outfits ausprobieren können. Manchmal kann ich an diesem Nachmittag vergessen, dass wir das demnächst nicht mehr so einfach werden machen können.

Erst am Abend, als ich wieder alleine im Bett liege, wird mir das Herz schwer und mir läuft die eine oder andere Träne die Wange hinunter, bevor ich schließlich einschlafe.

Ich sage den anderen nicht, dass das heute der letzte Tag ist, an dem ich in die Schule kommen werde, dass ich am Montag nicht mehr da sein werde. Denn dann würde die Verlobungsfeier am Sonntag, die ja eigentlich ein freudiger Anlass ist, zur Trauerfeier und das will ich nicht.
Sie machen Scherze wie immer, aber diese sind spürbar gezwungen und selten lustig. Die Lehrer wissen bereits, dass ich gehen werde und verabschieden sich von mir, sagen, ich wäre eine tolle Schülerin gewesen und dass es alle schade fänden, dass ich gehe, dabei kann ich ihnen allen ansehen, dass sie mein Schicksal so gut wie gar nicht interessiert und alles nur aus reiner Höflichkeit machen. Die Lehrer werde ich ganz bestimmt nicht vermissen, vor allem Herr Hohlbein nicht, aber wer sagt mir, dass es auf der neuen Schule besser wird?

Ich bin ehrlich enttäuscht von meinem letzten Schultag. Ich hatte mir immer vorgestellt, wie wir fünf als Abiturienten die Schule unsicher machen und jede Menge Spaß haben. Dieser Tag war das Gegenteil davon. Weder waren wir heute gut gelaunt, noch alle anderen und dadurch, dass mich immer wieder Leute ansprachen, konnte ich nicht mal für zwei Minuten vergessen, dass ich gehen werde.
Auch die letzte Busfahrt wird es heute sein.
„Danke, dass du mich immer zum Bus gebracht hast, Simon“, sage ich zum Abschied, wobei ich hoffe, dass es nicht zu sehr nach Abschied klingt, denn ich will ja, dass er glaubt, dass er mich auch am Montag noch zum Bus bringen darf.
„Wann zieht ihr denn genau um?“ Er hat mich durchschaut. Das ist eine Eigenschaft an ihm, die ich nicht genau, zu gut und schlecht einordnen kann. Auf der einen Seite kann man so schlecht etwas vor ihm verheimlichen oder ihn gar belügen. Nicht, dass ich das je gewollt hätte. Auf der anderen Seite ist es gut, denn er weiß immer, wie es uns geht und kann sich danach richten, was ihn zu einem sehr angenehmen Freund macht.
„Ach, wir haben noch Zeit“, tue ich mit einer lässigen Handbewegung ab und hoffe, dass er mir glaubt. Er erwidert jedenfalls nichts mehr darauf.
Alles nimmt seinen gewohnten Lauf. Von meinem Busfahrer verabschiede ich mich erst beim Aussteigen, denn sonst würde Simon alles mitkriegen.
Er ist traurig, als ich ihm sage, dass ich das letzte Mal mit seinem Bus gefahren sein werde, aber dann zuckt er mit den Schultern und wünscht mir einen schönen Tag. Ich sollte es ihm gleich tun, denn ich weiß selbst, dass es nichts hilft, den schönen Zeiten nachzutrauern, aber ich komme einfach nicht davon weg.

Sabine muss mich heute drei Mal dazu auffordern, damit anzufangen, meine Sachen ebenfalls in Kartons zu packen. Alle meine Bücher, CDs, Stifte, gesammelten Schleich-Figuren, Schneekugeln, selbst gemalte Keilrahmen und Bilder, Farben, Schulunterlagen und Schulbücher. Zum Glück brauche ich für die neue Schule dieselben wie jetzt und muss keine neuen kaufen. Ich packe alles ein außer das Buch, das ich momentan lese, den Computer, den Thomas einpacken will, Zahnbürste, Zahnpasta, Haarbürste, Handtuch, ein wenig Kleidung und mein Lieblingsstofftier. Es ist ein kleines Schäfchen, das total süß aussieht und sofort Mitleid erregt, weil es schon so ramponiert aussieht. Schließlich wurde es von mir, und wird es immer noch, sehr geliebt.
Ich nutze die Gelegenheit, alles wegzuschmeißen, was ich nicht mehr brauche.
Das Packen nimmt den ganzen Nachmittag in Anspruch. Am Abend können wir nicht mal einen Film gucken, weil Sabine und Thomas die Inneneinrichtung des Wohnzimmers samt Fernseher und DVDs ebenfalls schon eingepackt haben. Ich sitze also in meinem Bett und lese, doch meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Als ich den ersten Satz des Kapitels bestimmt zum fünften Mal gelesen habe und immer noch weiß, was darin vorkommt, lege ich das Buch schließlich zur Seite. Mein Zimmer sieht furchtbar kalt und leer aus. Ich knipse meine Nachttischlampe aus und es wird dunkel. Aber wenn ich nun in die Dunkelheit starre, sehe ich meine Freunde, Markus, Simon, Laura und Elli, vor mir. Ich schließe die Augen und versuche an etwas anderes zu denken. Das hat zur Folge, dass ich an meine Eltern denken muss. Ich sehe sie vor mir, aber ich weiß nicht, ob sie wirklich so ausgesehen haben, oder ob ich mir das nur ausgedacht habe, denn Fotos besitze ich keine. Immer wieder landen meine Gedanken entweder bei meinen Eltern oder meinen Freunden. Ich würde am liebsten aufstehen und auf unsere Terrasse gehen, aber das kann ich ja auch nicht alleine.
Wütend schlage ich mit meiner Faust auf die Decke, wobei mir gleichzeitig Tränen über die Wangen laufen. Es kommt nicht oft vor, dass ich mich so hilflos fühle.
Morgen ist Samstag. Morgen werden wir die Kartons und Möbel in den Umzugswagen räumen und in das neue Haus einziehen. Übermorgen ist die Verlobung von Ellis Eltern und am Montag schließlich ist mein erster Schultag. Mir wird jetzt schon übel, wenn ich nur daran denke...

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now