Kapitel 19

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Am übernächsten Morgen packt mir Sabine ein Lunchpaket mit zwei Brötchen, einer großen Flasche Wasser und einer Menge Süßes. Ich packe noch Sonnencreme, meine Fotokamera und meine Schirmkappe dazu. Bevor ich das Haus verlasse, erinnert mich Sabine noch an meine Fahrkarte und eilig hole ich sie aus meiner normalen Schultasche. Dann mache ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle.

„Was macht ihr heute?“, fragt mich Ciaran in der Schule.
„Wir gehen in den Zoo, und ihr?“
„Wir fahren nach Trier“, er verzieht das Gesicht. „Das bedeutet: den ganzen Tag durch die Stadt rennen. Wir machen eine Rallye.“
„Das ist doch toll“, meine ich.
„Mein Ding sind große Städte nicht.“ Er zuckt mit den Schultern. Finnie ist noch nicht da. Vermutlich kreuzt sie wie immer erst in der letzten Minute auf. „Und morgen? Du wirst wahrscheinlich nicht beim Sportfest teilnehmen, oder?“
Es ist eine rein rhetorische Frage, aber ich beantworte sie trotzdem. „Kein Sport. Ich weiß nicht, wo ich mich herumtreiben werde. Vielleicht kriege ich noch Anweisungen.“
„Wenn dir langweilig wird, kannst du zu mir kommen. Unsere Stufe übernimmt die Leitung der sportlichen Aktionen, natürlich immer mit 'nem Lehrer. Ich bin beim Weitsprung eingeteilt“, erzählt er.
„Okay, ich werde es mir merken.“
Er lächelt und plötzlich liegt ein ganz komischer Ausdruck in seinem Blick. Mein Herzschlag beschleunigt sich und mein Atem geht schneller. Er beugt sich vor.
„Hey, da seid ihr ja!“ Erschrocken fahren wir auseinander. Finnie kommt auf uns zugelaufen. „Es hat noch nicht geklingelt? Das ist gut.“ Erschöpft lässt sie sich auf die Bank neben Ciaran fallen. In diesem Moment tönt die Schulglocke über den Hof. Sie seufzt und steht wieder auf. Ich lache.
Im zweiten Stock verabschiedet sich Ciaran von uns und wünscht uns einen schönen Tag. Wir wünschen ebenfalls viel Spaß und machen uns auf den Weg zu unserem Klassenraum. Im Innern herrscht ein heilloses Durcheinander. Schüler sitzen auf den Tischen und unterhalten sich lautstark. Jungs werfen Papierkügelchen durch den Raum und einer, der sich für besonders witzig hält, malt Geschlechtsteile an die Tafel. Und in all dem Chaos steht Frau Kurt und versucht, die Klasse ruhig zu bekommen. Ohne Erfolg. Justus steht am Fenster und winkt, als wir reinkommen. Finnie schiebt mich zu ihm.
„Hallo“, begrüße ich ihn, woraufhin er nur knapp nickt. Wir warten schweigend und beobachten Frau Kurt, wie sie mit den Armen schwenkt, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wieder erfolglos. Schließlich kommt Herr Wolf und bläst durch eine Trillerpfeife. Er kennt seine Klasse offensichtlich ziemlich gut, so etwas mitzubringen. Augenblicklich sind alle still.
„So“, ruft er, „ich rufe jetzt die Namen den Gruppen nach auf und die kommen dann nach vorne und holen sich von mir so ein nettes Bändel ab, das sie sich um den Hals hängen, klar?“
Ich glaube nicht, dass so Leute wie Sina das Band mit dem laminierten Kärtchen lange anbehalten werden. Ich betrachte meins. Es steht mein Name, als auch die Namen meiner Gruppenmitglieder darauf. Außerdem, dass wir die Klasse 10d auf einem Klassenausflug sind und die Handynummern von Frau Kurt und Herr Wolf stehen drauf. Falls wir verlorengehen sollten. Wir fahren mit dem Bus. Herr Wolf hat extra einen mit Behindertenplatz gemietet. Hinter mir auf den normalen Plätzen sitzen Finnie und Justus. Trotzdem komme ich mir sehr allein vor.
Der Zoo ist nicht besonders groß, aber er wirbt für die Fütterung der Raubtiere und den Führungen, die zwei Mal am Tag stattfinden. Herr Wolf will eine solche mit uns machen, danach werden wir Zeit für uns in unseren Gruppen haben. Die Frau an der Kasse sagt uns, wir sollen einfach weiter auf den großen Platz gehen und auf unseren Führer warten. Die Führung würde etwa in einer Viertelstunde starten. Wir gehen zur ersten Umzäunung, in der das Rotwild untergebracht ist. Ein großer Hirsch mit einem prächtigen Geweih mustert uns aus tiefschwarzen Augen und zuckt mit den Ohren. Zwei Rehe lassen sich von uns nicht stören und fressen weiter von dem Heu in dem großen Trog. Plötzlich entschließt sich der Hirsch doch noch, uns einen Besuch abzustatten und er kommt ganz nah an das Gitter des Zauns. Sina und ihre Freundinnen treten schnell einige Schritte zurück. Finnie und ich bleiben, wo wir sind. Das Tier scheint speziell uns anzustarren. Ich krame meine Kamera heraus und schieße einige Fotos. Zum Glück scheint das das große Tier vor uns nicht zu stören. Es starrt uns weiterhin an.
„Ah, Klasse 10d? Ihr wollt die Führung machen?“
Wir wenden uns alle dem Sprecher zu. Er ist Mitte dreißig, hat halblanges blondes Haar und eine Brille auf der Nase. Und ich meine, ihn zu kennen.
„Ja, wir sind die 10d. Ich bin Anton Wolf“, stellt sich unser Lehrer vor uns reicht ihm die Hand.
„Freud mich, Sie kennenzulernen, Herr Wolf. Ich bin Ole Weber.“ Unser Führer nimmt die Hand und schüttelt sie. Jetzt bin ich mir sicher, dass ich ihn kenne. Auch, wenn er, als ich ihn zuletzt gesehen habe, noch Meyer hieß. „Na, dann fangen wir mal an. Was ihr hier seht ist im Allgemeinen das Rotwild. Also Rehe und Hirsche, wobei nur die männlichen Tiere ein Geweih bilden, weshalb die Weibchen auch als Kahlwild bezeichnet werden. Auch in unseren Wäldern lebt Rotwild, auch wenn der ursprüngliche Lebensraum aus offenen Landschaften bestand. Durch die Menschen und deren Besiedlung wurden sie zurückgedrängt. Das Rotwild zeichnet sich dadurch aus, dass es im Sommer ein rötliches Fell besitzt, das sich im Winter braun oder sogar grau verfärbt. Rehe und Hirsche fressen Gräser, Kräuter, Baumfrüchte, Blätter, sowie Nadeln und Rinde. Ein Rudel besteht aus einem Leittier, Alttieren, Schmaltieren, Weibchen im zweiten Lebensjahr, und Kälbern, Jungen im ersten Lebensjahr...“ Er erzählt viel, von dem ich wahrscheinlich nicht mal die Hälfte behalte. Nachdem er sich nach Fragen erkundigt hat, gehen wir weiter. Ole gesellt sich zu uns.
„Hallo, Ole“, grüße ich ihn, „ich bin's, Alice.“
Seine Augen weiten sich, als er mich erkennt. „Alice! Bist du groß geworden!“
„Na ja, als du mich das letzte Mal gesehen hast, was ich zehn“, sage ich trocken.
„Aber sag: Was machst du hier und warum gehst du hier in die Schule?“
„Wir sind umgezogen. Vor ein paar Wochen“, erkläre ich ihm, „und du?“
„Ich auch, aber das ist schon etwas länger her. Ich hab geheiratet und bin mit meiner Frau hier in die Nähe gekommen. Hier habe ich allerdings keine Anstellung als Psychologe bekommen und musste mir was anderes suchen. Und so bin ich dann letztendlich hier gelandet. Ah, hier wären wir bei den Erdmännchen...“ Und wieder erzählt er.
„Woher kennst du ihn?“, raunt mir Finnie zu.
„Er war mein Psychologe nach dem Unfall“, erkläre ich ihr und hebe wieder meine Kamera. Sie lässt das Thema zum Glück auf sich beruhen und widmet sich den kniehohen Tieren mit dem sandfarbenen Fell und den schwarzen Augen, die uns neugierig beobachten.
Wir kommen noch an Zebras, Affen, einem Vogelhaus mit Papageien und Nilpferden vorbei. Zwischendurch unterhalte ich mich immer wieder mit Ole. Er fragt, wie es mir so geht an der neuen Schule. Die Gespräche erinnern mich an früher.
Der Höhepunkt der Führung stellt schließlich die Fütterung der Raubtiere dar. Bei den Raubtieren handelt es sich um Geparde und ich muss sofort an Ciaran denken, weil das seine Lieblingstiere sind. Als Ole fertig ist, uns allerlei über den schnellsten Kurzstreckenläufer der Welt zu erzählen, spricht er in sein Funkgerät, dass es losgehen kann. Ich schalte meine Kamera auf Film und schon geht es los. Große Fleischstücke sind an langen Seilen über dem Gehege befestigt und werden nun hin- und hergeschwenkt. Die Raubkatzen springen mit einer unglaublichen Eleganz über Steine und Wiese dem Fleisch hinterher. Ich kann gut verstehen, warum es Ciarans Lieblingstiere sind. Es dauert nicht lange, bis der erste ein Stück ins Maul bekommen hat. Das Tier reißt es von der Leine und verzieht sich in eine Ecke, um genüsslich seine Beute zu verspeisen. Bald haben alle Raubkatzen ein Fleischstück und zehren es auf.
„So, ich bedanke mich ganz herzlich bei euch“, wendet sich Ole wieder an uns, „ihr wart tolle Zuhörer. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ihr könnt jetzt noch durch den Zoo gehen, euch am Imbiss was zu essen kaufen, noch mal zu euren Lieblingstieren zurückkehren... Was euch beliebt. Ich werde mich jetzt für die nächste Führung bereit machen. Tschüss!“ Damit wendet er sich ab und geht.
„Ihr habt es gehört“, übernimmt Herr Wolf. „Aber ihr müsst in den Gruppen bleiben, die wir festgelegt haben. Wir treffen uns um halb vier, spätestens um viertel vor, klar?“
Langsam verstreuen sich alle. Justus stellt sich zu uns und wir überlegen, was wir tun wollen.
„Also ich würde gerne was essen“, sagt Finnie. „Aber ich hab auch eigene Sachen, dann können wir uns auf eine Bank setzen. Vielleicht bei den Affen, die waren doch lustig.“
Justus nickt zustimmend und so machen wir uns auf den Weg zum Affenhaus. Die Tiere zu beobachten ist kurzweilig. Auch wenn wir nicht viel reden, ist es dennoch nicht unangenehm und unsere restliche Zeit geht schnell vorüber. Um zwanzig nach drei machen wir uns auf den Rückweg. Von unserer Klasse sind noch nicht viele da, aber nach und nach trudeln weitere ein. Zayne und seine Gruppe lässt lange auf sich warten. Erst um viertel vor vier treffen sie bei unserem Treffpunkt ein.
„Wo ist denn der Bus?“, fragt Zayne ganz unschuldig.
„Tja, wenn ihr meintet, mich ärgern zu können, indem ihr zu spät kommt, habt ihr falsch gedacht“, meint Herr Wolf, „der Bus kommt um vier. Ein Glück, dass ich euch das nicht gesagt habe.“ Lächelnd wendet er sich wieder seiner Liste zu und hakt die letzten Namen ab. Ich schaue zu Zayne. Er wirft Herr Wolf wütende Blicke zu, welche dieser getrost ignoriert. Wie gut uns unser Lehrer doch kennt. Wir machen uns auf den Weg zur Bushaltestelle und nach zehn Minuten kommt er. Die Rückfahrt läuft wie die Hinfahrt: ruhig und ohne Zwischenfälle. Schließlich kommen wir eine halbe Stunde später an der Schule an. Es ist ungewohnt leer und ruhig auf dem Busbahnhof. Finnie verabschiedet sich mit einer Umarmung von mir und macht sich auf den Heimweg, während Justus ohne ein Wort verschwindet. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und rufe Thomas an, damit er mich abholt. Dann stecke ich es wieder weg und warte. Herr Wolf und Frau Kurt beobachten, wie alle von dem Schulhof verschwinden. Als nur noch ich da bin, kommt Herr Wolf zu mir.
„Wirst du abgeholt?“, fragt er. Ich nicke. „Gut, wir gehen noch ins Sekretariat, aber nicht nach Hause, bevor du nicht versorgt bist. Also wenn was ist, kannst du kommen, ja?“ Wieder nicke ich und die beiden machen sich auf den Weg. „Falls du weg bist, wenn wir wiederkommen: schon mal bis morgen!“
„Tschüss“, sage ich. Ich warte zwei Minuten, dann steht er plötzlich hinter mir.
„Na, wen haben wir denn da?“ Seine Stimme ist leise und eindeutig boshaft und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken.
„Zayne“, stelle ich nüchtern fest. Wenn ich mich schon nicht körperlich verteidigen konnte, wollte ich mich auf jeden Fall geistig nicht schwach zeigen und schon gar nicht meine Angst.
„Du erinnerst dich an mich. Du weist sogar noch, wie ich heiße.“ Er lacht leise. „Dann scheine ich ja Eindruck hinterlassen zu haben.“
Ich verdrehe die Augen. „Wir gehen in eine Klasse.“
„Ja, richtig. Und bisher sind wir uns noch kein einziges Mal näher gekommen, geschweige denn zum Gespräch. Findest du das nicht traurig?“
„Nein, ehrlich gesagt nicht.“ Ich versuche möglichst nicht daran zu denken, was er tun würde, wenn nicht bald mein Vater auftaucht, und die aufsteigende Panik in mir zu unterdrücken. Mein Puls beginnt zu rasen, als er mit seinem Zeigefinger über die nackte Haut an meinem Hals und meinem Nacken streicht. Ich bewege mich nicht, das würde ihn nur noch mehr anheizen. Wie ein Tier bei der Jagd.
„Ach, sei doch nicht so kratzbürstig. Es wird Spaß machen, das verspreche ich dir“, grinst er, während er um mich herumgeht und neben mir stehen bleibt. „Zumindest mir.“ Er fährt mit seiner Hand unter mein Kinn und zwingt mich, ihn anzusehen. Das habe ich vermeiden wollen, denn ich weiß nicht, wie viel meine Augen verraten. Ich kneife sie zu einem, wie ich hoffe, wütenden Blick zusammen. „Ich kenne da ein nettes Plätzchen“, fährt er fort, „da sind wir ganz ungestört.“
Ein Motorengeräusch kommt immer näher und mein Blick flackert zu dem haltenden Bus.
„Versuch gar nicht mal, zu schreien“, warnt mich Zayne, der meinem Blick gefolgt war. „Bevor du auch nur Luft dazu geholt hast, werde ich dich schon daran gehindert haben.“ Mein Mut sinkt.
„Was tust du da mit meiner Freundin, Bail?“
Bei seiner Stimme schlägt mein Herz schneller. Zayne wirbelt herum. Und da steht er, mein Retter. Die linke Hand in der Hosentasche, die rechte am Gurt seines Rucksacks, der über der einen Schulter hängt. Die Stirn hat er gerunzelt, als interessiere es ihn wirklich und als wisse er nicht, was Zayne vorhat. Ciaran.
„Ich habe mich nur mit ihr unterhalten, mit deiner Freundin“, meint Zayne mit Unschuldsblick. Ciaran nickt wissend. „Weil sie ja warten muss, dass sie abgeholt wird“, erklärt er weiter. Wieder nickt Ciaran. „Aber jetzt bist du ja da, Leech.
„Ja, jetzt bin ich da“, sagt Ciaran und seine Stimme ist so frostig klirrend kalt, dass nicht nur Zayne zusammenzuckt.
„Tschüss, Alice. War nett mit dir zu plaudern. Vielleicht können wir das bei nächster Gelegenheit mal wiederholen.“ Mit diesen Worten dreht sich Zayne um und geht.
Ciaran stellt sich neben mich und sieht ihm nach. „Dieses Schwein“, flucht er und seine Stimme zittert vor Zorn. Fast habe ich Angst vor ihm. Aber dafür bin ich viel zu erleichtern. So erleichtert, dass mir fast die Tränen kommen.
„Danke, Ciaran. Ich bin so froh, dass du da bist“, sage ich, lege den Kopf in den Nacken und lächele zu ihm hoch. Augenblicklich werden seine Züge weicher.
„Ich auch, Alice, ich auch.“ Er legt eine Hand auf meine Schulter und drückt sie sanft. Seine Finger schicken Wellen von Wärme durch meinen von Panik eiskalten Körper.
„Was machst du hier?“, frage ich schließlich.
„Wir sind gerade mit dem Bus angekommen. Ihr auch, nehme ich an?“
„Ja, und wie war's?“
„Es ging. War nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe“, erzählt er. „Wir haben sogar ein Eis spendiert bekommen.“ Wir lachen. „Und bei dir?“
„Schön! Wir haben ganz viele Tiere gesehen. Ich hab sie sogar fotografiert, willst du sehen? Und die Fütterung der Geparden habe ich sogar gefilmt. Es sind ja deine Lieblingstiere und ich hab mir gedacht, wenn du schon nach Trier musst...“ Ich grinse.
„Klar“, lächelt er, woraufhin ich nach der Kamera krame. Ich gebe sie ihm und er schaut die Bilder durch. Jedes einzelne betrachtet er lange und eingehend. Als wäre es etwas besonderes und er könnte durch das Bild den Tag genauso miterleben. Schließlich ist er fertig und gibt sie mir zurück. Ein Funkeln liegt in seinen Augen, als er mich mit schräggelegtem Kopf ansieht.
„Was ist?“, frage ich.
„Schön, dass du an mich gedacht hast“, sagt er leise. Ich lächele. Für einen Moment verliere ich mich in seinen Augen. Dann fährt ein Auto auf den Steig und mein Kopf wirbelt herum. Es ist Thomas. Er steigt aus und kommt ums Auto herum zu uns.
„Hallo, ihr beiden“, begrüßt er uns und zwingt sich zu einem Lächeln. In Ciarans Gegenwart ist er immer ein wenig steif, aber seit den vielen schönen Sommertagen, die er bei uns verbracht hat, ist es besser geworden. „Wie war's im Zoo?“
„Schön“, antworte ich, „du kannst dir ja nachher die Bilder anschauen. Aber jetzt will ich nach Hause.“ Wie zum Beweis meiner Müdigkeit muss ich gähnen.
„Na dann, komm.“ Er wendet sich zum Gehen.
„Ähm, kann ich helfen?“, fragt Ciaran.
„Nein, das kann ich alleine“, entgegnet Thomas ungewohnt bissig und plötzlich wird mir etwas klar: Thomas hat Angst, von mir nicht mehr gebraucht zu werden, Angst, mich loszulassen. Doch mir ist auch bewusst, dass er es irgendwann tun muss. Das ist unausweichlich. Und noch eines wird mir deutlich: Für ihn bin ich seine Tochter, die er schützen muss, und nicht die Tochter der Schwester der Ehefrau und Geliebten.
Thomas öffnet die Beifahrertür und ich rolle zu ihm, damit er mich hineinheben kann. Ich merke genau, dass es ihm schwerer fällt als Ciaran. Während Thomas den Rollstuhl in dem Kofferraum verstaut, tritt Ciaran an das Fenster, das ich öffne.
„Nun... dann... Wir sehen uns“, sagt er, bleibt aber immer noch stehen. Kurz wirkt er unentschlossen. Schließlich hebt er eine Hand ins Auto und streicht mit seinen Fingern sanft über meine Wange. Wahrscheinlich weiß er nicht, was er damit anrichtet. Die Haut beginnt sofort so kribbeln und mein Puls erhöht sich mindestens um das doppelte. Erst dann tritt er vom Auto zurück und Thomas fährt sofort los. Ich sehe ihn im Rückspiegel, wie er uns hinterherschaut. Dann biegen wir um eine Ecke und er verschwindet aus meinem Blick.

Erst als ich abends im Bett liege, berühre ich meine Wange, die sich immer noch anders anfühlt. Es ist komisch. Meine Freundin. So hat er mich genannt. Meine Freundin. Ich lächele in die Dunkelheit hinein.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now