Kapitel 31

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Ich überlege oft, ob ich Simon anrufen soll. Irgendwie habe ich das Bedürfnis, dass er es als erster erfährt. Aber dann denke ich mir, dass das auch blöd ist. Als würde ich ihm eine lange Nase machen, Salz in seine Wunden streuen und noch extra verreiben, was ich natürlich am allerwenigsten will. Ich weiß genau, wie er reagieren würde, aber ich weiß nicht, was er dabei empfinden würde. Er würde sagen, dass es okay wäre und dass ich mir keine Sorgen um ihn machen sollte, dass ich glücklich werden sollte. Aber innerlich wäre er vielleicht noch verletzter als vorher. Wenn ich es ihm allerdings nicht sage, denkt er womöglich, dass er mir nichts bedeutet und er mir ganz egal ist. Denn das ist er nicht. Simon ist mir sogar sehr wichtig, genau wie Markus, Laura und Elli. Ihn kenne ich am längsten, mit ihm bin ich aufgewachsen. Nicht selten verzweifele ich an diesen Gedanken. Bisher habe ich noch keine Entscheidung getroffen.

Bald fahren wir zu Ole. Er hat Marie und mich zu sich eingeladen. Amelie wird auch da sein. Das Wetter ist so schön wie die Tage zuvor auch. In den Nachrichten werden schon zahlreiche Waldbrände gezeigt und der Boden wird immer trockener. Mit geht das Wetter auch langsam auf die Nerven, weil ich zum Abkühlen nicht ins Wasser gehen kann, aber ändern können wir daran sowieso nichts und müssen es akzeptieren.
„Hallo, ihr beiden. Wie geht es euch?", fragt Tina, als sie uns die Tür aufmacht.
„Gut, danke der Nachfrage", sage ich, als auch schon Ole um die Ecke kommt.
„Hey, ihr zwei! Schön, dass ihr kommen konntet! Kommt rein!" Dann wendet er sich zur Treppe und ruft nach seiner Tochter. Amelie strahlt ebenfalls, als sie runterkommt und sie und Marie verschwinden sofort wieder zum Spielen.
Ole und ich setzen uns mit einem Glas Wasser an den Küchentisch.
„Also, erzähl mal. Wie geht es dir?", fragt er und trinkt einen Schluck.
„Gut, und dir?"
Er sieht mich einen Moment an, dann antwortet er: „Auch gut. Das Wetter nervt mich nur langsam. Aber das sehen so junge Leute wie du bestimmt anders?"
„Na ja... auch mir sind die Temperaturen zu warm." Ich lache, weil das weit untertrieben ist. Er macht mit.
„Und, wie geht's dir, nun, da deine Freunde wieder weg sind?"
Ich glaube nicht, dass mir normale Menschen solche Fragen stellen würden. Das ist typisch für solche, die darauf trainiert sind, die Probleme anderer Leute zu finden. „Es ist ziemlich still geworden", antworte ich. „Am Anfang war es ganz furchtbar, aber mittlerweile hab ich mich wieder dran gewöhnt. Ich hab ja auch noch andere Freunde."
„Wie geht's denen?", fragt er weiter.
„Gut, nehm ich an." Auf was will er hinaus?
„Alice, Sabine hat mir von deinen Alpträumen erzählt."
Die Worte bleiben im Raum stehen. Ich starre auf mein Wasserglas und nicke dann langsam. Ich sehe aus dem Fenster und beginne zu erzählen. Nicht nur die Geschichte, sondern besonders von meinen Gefühlen. Von dem nassen Wasser, das über mir zusammenschlägt, von dem Raum um mich herum, der nur von Wasser gefüllt ist, von dem Fehlen von Sauerstoff. Ole mischt sich nicht ein, lässt mich alles von der Seele reden.
„Es war so furchtbar, ich dachte wirklich, jetzt müsste ich sterben", ende ich schließlich und merke, dass ich weine.
„Wer hat dich rausgeholt?", fragt Ole.
Ich sehe ihn an. „Ciaran." Meine Stimme ist fast weg.
Er nickt. „In unseren Träumen verarbeiten wir. Unsere Wünsche und Hoffnungen, aber auch schreckliche Ereignisse oder unsere Ängste. Manchmal reicht es aber nicht aus, sie zu verarbeiten. Manchmal sind sie so groß, dass man sie überwinden muss. Ich nehme an, du warst seitdem nicht mehr im Wasser?" Er schenkt sich noch ein Glas Wasser ein.
„Ja, war ich nicht."
„Mach das mal."
„Was? Das würden Sabine und Thomas nie erlauben."
„Ich werde mit ihnen reden, aber geh nicht allein. Nimm den Menschen mit, dem du am meisten vertraust. Und danach kommst du wieder zu mir und erzählst mir davon, okay?"
Ich nicke. Den Menschen, dem ich am meisten vertraue. Ich weiß schon, wen ich mitnehmen werde. Den Rest des Nachmittags verbringen wir mit Spielen. Amelie und Marie setzen sich auch dazu, aber meine Gedanken sind nicht immer bei dem Spiel. Vielmehr klopft mein Herz immer heftig, wenn ich an den bevorstehenden Schwimmbadbesuch denke. Vor Aufregung? Oder vor Angst?

Ciaran fragt mich zuerst, warum um Himmels Willen ich ins Schwimmbad wolle, als ich ihn frage. Ich erkläre es ihm und er nickt, wenn auch mit einem Gesichtsausdruck, der aussagt, dass er nicht ganz überzeugt ist.
„Aber ich habe keinen Rettungsschwimmer", wirft er ein, „wieso willst du mich mitnehmen?"
„Ole meinte, ich solle jemanden nehmen, dem ich bedingungslos vertraue. Und du warst die erste Person, die mir eingefallen ist. Außerdem hast du mich schon einmal gerettet." Mir ist nicht bewusst, wie besonders diese Worte sind, aber sie sind vollkommen wahr. Ich vertraue ihm voll und ganz.
„Okay", sagt er, „gehen wir schwimmen. Wir können Grace fragen, ob sie mitkommt, weil... sie werden mich wohl kaum mit dir in die Damenumkleide lassen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie dich überhaupt rein lassen mit deinem Handicap."
„Ole hat mir eine ausdrückliche Zustimmung gegeben, mit der ich, laut ihm, reinkommen müsste. Er hat sie von einem Arzt", erkläre ich.
Er nickt und wir verabreden uns für den nächsten Tag. Grace leiht mir einen Badeanzug und so sitzen wir am nächsten Morgen alle drei in Ciarans Auto und brausen zum Schwimmbad. Über dem karierten Badeanzug trage ich ein leichtes Sommerkleid, das ich nachher wieder über die nassen Sachen ziehen kann, zumal es sehr unwahrscheinlich ist, sich bei den Temperaturen eine Erkältung zu holen. Wir müssen an der Rezeption erst allerlei Überzeugungsarbeit leisten, bis sie mich überhaupt reinlassen. Wir nehmen eine Familienumkleidekabine. Da wir alle unsere Badesachen schon drunter haben, sind wir auch schnell wieder draußen und verstauen unsere Taschen in den Schließfächern. Für mich ist das alles Neuland. Wenn ich früher schon einmal in einem Schwimmbad war, kann ich mich nicht erinnern. Es riecht unangenehm und der Fußboden ist nass. Wir gehen nicht durch die Duschen, wie mir Grace erklärt, sondern durch den Mittelgang. Ciaran und Grace haben keine Bedenken, dass jemand meinen Rollstuhl stehlen könnte, denn schließlich braucht ihn im Schwimmbad sowieso niemand und wenn ihn jemand mitnähme, würde es schon sehr auffallen. Wir gehen zu einer Liege, die meisten sind frei, weil alle draußen sind, und stellen die Tasche mit der Verpflegung und meinen Rollstuhl ab.
„Ich hab mich mit Lars draußen verabredet", sagt Grace, „wenn ihr mich braucht oder wieder geht, sagt mir bescheid. Viel Spaß!" Damit geht sie Richtung Tür, die auf das Draußengelände führt.
Ciaran lächelt mich an. Ich merke, wie angespannt ich bin. „Okay, bringen wir es hinter uns", meint er. Ich lächele gequält. Er hebt mich aus dem Rollstuhl und geht zu Stufen, die ins Becken hinunter führen. Mein Herz schlägt schnell, mein Atem rast.
„Ciaran", flüstere ich heiser.
„Sht, alles in Ordnung", sagt er leise.
Ich lege meine Arme um seinen Hals und lege meinen Kopf auf seine Schulter, aber die Bilder kommen trotzdem wieder. Von Wasser, das mir die Luft nimmt. Von meinen Haaren, die um meinen Kopf in den Wellen schwimmen.
„Bitte, Ciaran, geh wieder raus", sage ich, nun fast hysterisch.
„Hey." Er zwingt mich, ihn anzusehen, aber es gelingt mir nur schwer, mit den Gedanken bei ihm zu bleiben. „Konzentrier dich auf mich, auf das Hier und Jetzt. Du ertrinkst nicht, du hast Luft, ich bin da." Leichter gesagt, als getan. Plötzlich merke ich eine Veränderung an meinen Füßen. Sie sind im Wasser. Ich habe nicht bemerkt, dass er weitergeht. Als ich hinuntersehen will, hält er mich auf, hält mich fest mit seinem Blick. Die Kühle des Wassers steigt immer weiter, erreicht meine Knie, verschlingt meine Oberschenkel, aber ich zwinge mich, nicht daran zu denken, bloß an ihn.
„Alice, ich liebe dich, wie ich zuvor nie jemanden geliebt habe." Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Körper aus. Er beugt sich vor und küsst mich. Dann geht er mit mir unter Wasser.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteOnde histórias criam vida. Descubra agora