Kapitel 46

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Manchmal gibt es Momente, in denen Erinnerungen auf einen einprasseln und man nichts dagegen tun kann. Man muss es irgendwie ertragen und hoffen, dass es bald aufhört. Zumindest wenn es schlechte Erinnerungen sind, traurige oder verzweifelte. Wenn die Erinnerungen schön sind, fröhlich und heiter, dann erinnert man sich gern daran, und dann müssen sie gar nicht so schnell aufhören. Aber am allerschlimmsten ist es, wenn man mehrere gleiche schlechte Erfahrungen macht. Wenn du zum Beispiel mehrmals denselben Mann wiedertriffst, der ohne Zähne und anständige Kleidung, und der seine Haare nicht gekämmt hat, der nach deiner Hose greift mit seinem eisernen Griff und dich nicht loslässt, bittet und bettelt und dich bedrängt. Wenn du diesen Mann ein zweites oder gar ein drittes Mal wiedertriffst, machst du das nächste Mal einen großen Bogen um ihn und siehst ihn vielleicht trotzdem an jeder Straßenecke, nur, dass er nicht wirklich da ist. Das hat was mit Angst zu tun und Paranoia.
Ich erlebe auch nicht immer und immer wieder dieselbe Situation, aber trotzdem kann ich es nicht verhindern, dass sich die Erinnerungen in meinen Kopf schleichen. Und ich kann sie nicht mehr unterscheiden. Die einen Scheinwerfer verschwimmen mit den anderen, Wortfetzen vermischen sich zu einem Dialog, den es nie gegeben hat. Mal sitze ich mit meinen leiblichen Eltern im Auto, mal mit meinem Freund. Obwohl ich weiß, dass das alles längst vorbei ist, bin ich dennoch mittendrin. Und es gibt keinen Anker, an dem ich mich aus dem Sumpf ziehen könnte.
Manchmal höre ich Satzfetzen, die ich von meinem Erinnerungswirrwarr zu unterscheiden glaube. Ich bilde mir ein, dass sie von jemand anders kommen, dass vielleicht jemand mit mir redet. Aber ich habe nicht viel Freiraum, meine Gedanken lenken mich immer wieder ab. Es ist anstrengend und ermüdend, alles mitanzusehen, immer und immer wieder, und rein gar nichts dagegen tun zu können. Ich will aufwachen, aber aus mir unerfindlichen Gründen klappt es einfach nicht. Die Dunkelheit jenseits der Erinnerungen ist zu dunkel.

Danke, Alice. Für alles, was du für mich getan hast. Ich sage es dir heute und nicht erst morgen oder am Tag nach Morgen."

„Ich liebe dich."

„Und ich dich erst."

Sein Lächeln. Sein Lächeln ist das einzige, auf das ich mich konzentrieren kann. Ich versuche, mich daran festzuhalten. Das erste Mal, dass er mich anlächelte. Es war auf dem Schulhof, als er mir half, meine Sachen wieder aufzusammeln. Wenn er mich wiedersah, hat er jedes einzelne Mal gelächelt. Als er meine Freunde beim Becker kennenlernte. An meinem Geburtstag. Als ich die Angst vor dem Wasser überwand, nachdem ich beinahe ertrunken war. Als wir uns das erste Mal küssten. Jedes Mal hat er mich angelächelt, wenn ich ihm meine Liebe oder er mir seine Liebe gezeigt hat. Als er mir meinen Wunsch erfüllte und mit mir die hohen Lüfte beflog. Als ich ihn liebte, trotz seines Drogenproblems. Als er aus der Klinik wiederkam. Jedes einzelne verdammte Mal hat er gelächelt. Für mich. Selbst wenn es ihm schlecht ging oder er ganz und gar nicht zufrieden mit sich und der Welt war, hat er trotzdem für mich gelächelt. Ich will dieses Lächeln mehr als alles andere. Ich will es in Erinnerung behalten, aber vor allem will ich genau dieses Lächeln wiedersehen, das er nur für mich lächelt.

Irgendwann geht es ganz leicht. Irgendwann klappt es einfach und ehe man sich's versiehst, knallen die Eindrücke auf einen ein. Hinterher weiß man nicht mehr, was man denn nun anders gemacht hat, und manchmal ist es auch egal. Meist zählt dann nur noch, dass man es getan hat, dass man endlich die Augen geöffnet hat.
Die weiße Zimmerdecke ist das erste, das ich sehe. Dann höre ich eine mir sehr vertraute Stimme. Sie ist mir vertrauter als alle anderen Stimmen auf dieser Welt, denn es ist die Stimme meiner Mutter. Ich lenke meinen Blick von der schneeweißen Decke auf Sabine, die neben meinem Bett auf einem Stuhl sitzt. Allerdings kann ich noch nicht verstehen, was sie sagt. Mein Gehirn ist zu sehr damit beschäftigt, die Situation zu orten, nachdem es tagelang nur dieselben Bilder zu sehen bekommen hat. Ich versuche, etwas zu sagen, sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich aufgewacht bin. Meine Kehle ist so trocken und ungebraucht, dass nur ein Krächzen herauskommt, aber es reicht. Sabine sieht auf. Ihr Gesichtsausdruck wandelt sich von besorgt und bekümmert zu erleichtert und froh, als sie realisiert, dass ich die Augen geöffnet habe.
„Alice", flüstert sie und steht auf, um mich zu umarmen. Ich will meine Arme ebenfalls um sie schließen, sie nach so langer Zeit in die Arme nehmen, ihr zeigen, dass es keinen Grund gibt, zu trauern und dass mit mir alles in Ordnung ist, aber es geht nicht. Ich kann sie nicht spüren, meine Arme. Es ist kein Gefühl in ihnen und so sehr ich mir auch vorstelle, was sie tun sollen, habe ich keine Kontrolle über sie. Es macht ihre Umarmung schwerer zu ertragen.
„Mama?", krächze ich.
„Ja, mein Schatz?" Sabine löst sich wieder von mir und setzt sich auf ihren Stuhl.
Ich räuspere mich. Viel bringt es nicht. „Wieso kann ich meine Arme nicht bewegen?"
„Ihr... hattet einen Autounfall", beginnt sie.
Ich lache freudlos auf. „Ich kann mich erinnern."
„Ja... Offenbar ist dein Kopf so heftig zurückgeschleudert worden, dass du nun einen Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule hast. Die Ärzte haben festgestellt, dass deine Atmung zum Glück nicht darunter gelitten hat, aber dein Rückenmark und die Nerven haben sich entzündet und deshalb... kannst du deine Arme nicht bewegen und deine Beine auch nicht. Aber der Arzt will weitere Untersuchungen anstellen, es gibt auf jeden Fall Heilungschancen." Sie drückt meine Hand, bis sie sich wohl wieder daran erinnert, dass ich es nicht spüren kann. Peinlich berührt zieht sie sie wieder zurück, aber ich nehme es ihr nicht übel.
Ich merke, dass sie mir noch etwas verschweigt. „Was ist noch?"
Sabine schaut auf. „Es kann allerdings auch sein, dass der Schock die Beweglichkeit deiner Gliedmaßen weiterhin einschränkt, auch wenn es deiner Wirbelsäule längst wieder gut geht, aber auch dem ist mit Therapie beizukommen, sagt Dr. Krause, dein Arzt."
Ich nicke und versuche, mir einzureden, dass noch nichts verloren ist. Ich schließe die Augen und versuche, meine Nerven irgendwie nach meinen Armen oder Beinen auszustrecken, aber für mein benebeltes Gehirn bestehe ich nur aus Kopf und ein bisschen Hals. Wenigstens schlucken kann ich noch.
„Okay", sagt Sabine und steht auf, „ich sag den anderen Bescheid, dass du aufgewacht bist. Sie trinken gerade einen heißen Kakao. Oder möchtest du lieber schlafen?"
„Nein, ist schon okay. Ich würde mich auch gerne sehen wollen."
Sie nickt und geht Richtung Zimmertür.
„Ähm, Sabine?"
„Ja?" Sie dreht sich noch einmal um.
„Wie lange war ich bewusstlos?"
„Zehn Wochen." Damit öffnet sie die Tür und verlässt mein Zimmer.
Zehn Wochen? Das sind zweieinhalb Monate. Ich schaue aus dem Fenster. Der Himmel ist so weiß, dass man die Schneeflocken beinahe nicht sieht. Was muss ich meiner Familie Sorgen bereitet haben. Ich schaue an mir herab. Meine Haare sind ein ganzes Stück länger.
„Alice!" Marie reißt die Tür auf und kommt in mein Zimmer gestürmt. Hinter ihm betritt Thomas mein Zimmer. Auch er lächelt. Marie setzt sich zu mir aufs Bett, während Thomas mit dem Stuhl vorlieb nimmt.
„Na du hast uns ja einen ganz schönen Schrecken eingejagt", lächelt er und streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Das tut mir ehrlich leid", sage ich, aber Thomas winkt ab.
„Ach, Hauptsache ist doch, dass du wieder aufgewacht bist."
„Guck mal, Alice. Ich hab ne neue Mütze", meint Marie aufgeregt.
„Ja, ich hab schon gesehen. Die ist ja wirklich toll." Ich hätte ihr gern über den Kopf gestreichelt. Die Mütze ist bunt gestreift, hat einen Bommel und zwei geflochtene Zöpfe an den Seiten.
„Sie trägt sie die ganze Zeit, selbst hier im Krankenhaus, wo es so warm ist." Thomas übernimmt es für mich, Marie über den Kopf zu streicheln.
In diesem Moment betritt Sabine mit dem Arzt das Zimmer, was man gut an seiner Kleidung erkennen kann.
„Guten Tag, Alice, ich bin Dr. Krause", stellt er sich vor. Beinahe rechne ich damit, dass er mir die Hand reicht, aber er hält sich zurück. „Ich bin dein Arzt und würde dir gerne noch ein paar Fragen stellen."
Ich nicke.
„Gut. Wie fühlen sie sich?"
Tja, wie fühlt man sich? „Äh, keine Ahnung?"
„Ich meine, haben Sie Schmerzen oder so?"
„Nein, ich fühle gar nichts schulterabwärts", sage ich. Ich fürchte, dass ich dabei nicht sehr freundlich klinge.
„Okay." Dr. Krause macht sich Notizen. „Ich möchte Sie gerne in den MRT schicken, aber ich nehme an, dass Sie sich lieber noch ein bisschen ausruhen wollen?"
Ich hätte mit den Schultern gezuckt, aber nicht mal das kann ich. „Ja", sage ich deshalb einfach. Auch, weil ich gerne noch mit Ciaran sprechen will und er sicherlich mit mir.
„Gut, dann mache ich für morgen einen Termin für Sie." Wieder macht er sich Notizen. Dann wendet er sich an meine Familie. „Ich würde Sie dann auch bitten, nicht mehr zu lange zu machen, damit sie sich gut ausruhen kann."
Sabine nickt. „Selbstverständlich."
Thomas steht auf und bedeutet auch Marie, sich von mir zu verabschieden.
„Darf ich noch fragen, wie viel Uhr es ist?", frage ich, bevor sie gehen.
Mein Vater wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. „Viertel nach drei gleich."
„Könnt ihr auch Ciaran Bescheid sagen, dass ich aufgewacht bin? Ich würde gerne mit ihm sprechen."
Thomas nimmt Marie an der Hand und geht mit ihr aus dem Zimmer, ohne mich nochmal abzusehen. Verwirrt schaue ich zu Sabine. Sie setzt sich auf den Stuhl.
„Das geht leider nicht", seufzt sie. Mir gefällt ihr Gesichtsausdruck ganz und gar nicht.
„Was? Warum nicht? Es geht ihm doch gut, oder? Er hat den Unfall doch... überlebt, oder?" Meine Stimme wird vor Angst immer leiser. Ich will nicht mal daran denken.
„Nein, er... er hat den Unfall überlebt."
Eine unendliche Erleichterung überkommt mich. Ich kann mir nicht vorstellen, was ich dann getan hätte. Allerdings ist da dieses große Aber in der Luft. „Was ist es dann? So schlimm kann es nicht sein und irgendwann musst du es mir sowieso sagen."
Sabine seufzt und sieht mich bekümmert an. „Alice, ich bin mir sicher, dass es nicht seine Absicht war. Als du im Koma lagst, war er jeden Tag da und hat mit dir geredet. Nebenbei ist er zur Schule und regelmäßig zu Ole gegangen, aber dennoch hatte er sehr große Schuldgefühle wegen dem, was passiert ist."
„Deshalb möchte ich ja mit ihm sprechen", dränge ich, aber als Sabine für einen Moment die Hand über die Augen legt und zitternd einatmet, merke ich, dass sie den Tränen nahe ist, sie aber unterdrückt, um für mich stark zu sein. Das macht mir noch mehr Angst.
„Es war zu viel für ihn, Alice", sagt sie schließlich. „Er wollte diese Gefühle unbedingt verbannen und hat wieder zu Drogen gegriffen." Erschrocken sehe ich, dass sie nun sogar leise weint. „Aber ich bin mir sicher, dass die Überdosis keine Absicht war. Dafür hat er dich zu sehr geliebt."
Mir wird eiskalt. Überdosis, hat sie gesagt.
„Es tut mir so leid, Alice, aber ich kann ihm nicht sagen, dass du aufgewacht bist, weil er nicht..." Sie stockt.
„Nein, bitte sag es nicht", flüstere ich leise. Meine Stimme bebt vor Angst.
„Doch, Alice. Ole hat gesagt, dass ich es dir sagen muss. Ciaran ist... tot, Alice. Er kann dich nicht besuchen kommen und du kannst auch nicht mit ihm sprechen. Dafür ist es zu spät. Es tut mir so leid, Alice."
Ich presse die Lippen aufeinander und schüttele den Kopf. „Bitte, lass mich alleine."
Sabine rührt sich nicht, während ihr weiter Tränen über die Wangen laufen.
„Bitte!" Ich schreie, weil ich wütend bin. Nicht auf Sabine, und es ist unfair von mir, aber ich bin sicher, dass sie mir vergeben wird. Sie nickt und steht auf. Ich beobachte sie nicht, aber ich höre, wie die Tür auf- und zugeht. Mein Blick wandert zum Fenster. Die Flocken fallen so leicht und schwerelos wie zuvor. Winter. Es gäbe wahrscheinlich viel, das mir im Kopf herumwandern könnte. Aber im Moment kann ich an nichts anderes denken, als daran, dass das alles ein Traum sein muss. Ich kann weder meine Beine noch meine Arme bewegen und auf einmal ist es Winter. Oder war der ganze Sommer nur ein Traum? Nein, das kann nicht sein. Ciaran kann niemals nur ein Traum gewesen sein. Also muss es das hier sein. Der Unfall und der Winter. Das muss alles ein Traum sein. Leider ist der Traum so dermaßen bescheuert, dass ich mich nicht mal in den Arm kneifen kann, um daraus aufzuwachen.

Gehandicapt - Eine besondere LiebesgeschichteWhere stories live. Discover now