Gehandicapt - Eine besondere...

By readerbunny01

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1. Platz beim Galaxy-Award in der Kategorie Jugendliteratur, vielen Dank dafür! Auch wenn Alice wegen eines U... More

Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Epilog
Nachwort

Kapitel 10

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By readerbunny01

Hallo Leseratten,
Ich freue mich, dass ihr mein Buch lest. Ich hoffe, es gefällt euch. Meldet mir bitte zurück, ob die Kapitellänge so okay ist und ob ihr lieber kürzere und dafür mehr, oder lieber längere und dafür weniger hättet. Der Inhalt ist derselbe. Ich glaube, sie sind länger, als in Tränen von Blut, aber wäre es auch in Ordnung gewesen, wenn das K. noch länger gewesen wäre, als es sowieso schon ist? Ich bin mir da immer sehr unsicher. Wenn ihr meine Meinung wissen wollt: lieber viele, kurze Kapitel, als lange, wenige.
Ich freue mich immer über V&K! Viel Spaß beim Lesen!

Euer readerbunny01-

Die nächsten Schultage verlaufen ohne große Zwischenfälle. Es passiert nichts besonderes. Finnie und Ciaran sind inzwischen gute Freunde und auch sie kann sich mit Ciaran arrangieren. Am Wochenende machen wir den Rest des Hauses gemütlich und bewohnbar. Der zweite Stock ist direkt unter dem Dach. Dort sind die Schlafzimmer von Thomas, Sabine und Marie, sowie ein großes Badezimmer und eine Toilette. Einmal hat sich Thomas die Mühe gemacht, mich hochzutragen, weil er meint, ich solle wenigstens ein Mal gesehen haben, wie das Haus, in dem ich wohne, aussieht. Wir haben außerdem einen Keller. Auch dort war ich nur ein Mal. Er ist groß und geräumig. Wahrscheinlich werden wir ihn als Abstellmöglichkeit für Fahrräder und anderen Kram nutzen.

Mittlerweile ist eine Woche vergangen und wir haben Mittwoch, als wir alle zusammen am Mittagstisch sitzen. Es gibt Kartoffelgratin mit Broccoli.

„Also“, eröffnet Sabine das Gespräch, „wir wollen unser altes Haus verkaufen und müssen deswegen am Wochenende noch mal dahin, um letzte Sachen zu klären, Thomas und ich. Wir haben schon einen Interessenten, aber der will sich das Haus auch von innen angucken. Wir wollen euch aber nicht alleine lassen.“

„Wie lange seit ihr denn weg?“, frage ich.

„Nur einen Tag“, antwortet Thomas, „wir fahren Samstag Morgen und sind am Abend wieder da.“

„Ich kann Chiara fragen, ob ich kommen darf. Vielleicht darf ich ja sogar bei ihr übernachten!“ Marie ist sofort Feuer und Flamme. Ich nicht.

„Tja, das wird bei mir aber schwierig“, werfe ich ein. „Ich kann nicht den ganzen Tag zu einer Freundin gehen.“ Sie wissen, was ich meine. Einen ganzen Tag würde nicht mal meine trainierte Blase aushalten.

„Ja“, erzählt Sabine, „deshalb wollten wir jemanden fragen, der ein bisschen ein Auge auf euch werfen könnte. Wir könnten die Nachbarn bitten.“

„Ich könnte auch Ciaran fragen.“ Die Worte sind schneller raus, als ich mir bewusst werden kann, was sie bedeuten, dass meine Familie ja gar nicht weiß, wer er ist und dass ich es ihnen eigentlich nicht hatte erzählen wollen. Aber jetzt ist es zu spät. Schnell schiebe ich mir eine Gabel Kartoffeln in den Mund, um nicht sofort antworten zu müssen, denn ich weiß, was jetzt kommt.

„Wer ist Ciaran?“, fragt Thomas sofort misstrauisch und runzelt die Stirn.

„Ähm, nur ein Freund aus der Schule. Er hat mir am Anfang geholfen und tut es immer noch neben Finnie“, erkläre ich und finde mein Mittagessen plötzlich hochinteressant. Ich habe keine Ahnung, warum ich so reagiere. Fakt ist, dass ich was vorspielen würde, würde ich mich anders verhalten.

„Ähm, wir dachten schon an eine Person, die im Notfall weiß, was zu tun ist. Leute in deinem Alter scheinen mir da doch ein bisschen jung. Außerdem dachten wir, dass diese Person euch auch was zum Mittag und, je nach dem wie spät wir nach Hause kommen, auch was zum Abendbrot macht“, erklärt Sabine vorsichtig.

„Ciaran ist aber nicht so jung wie ich“, verteidige ich ihn.

„So, wie alt ist er denn?“, fragt Sabine.

„Also er hat schon den Führerschein.“ Dass er ihn seit nicht mal einen Jahr hat, erwähne ich nicht.

„Dann seid ihr gar nicht in einer Klasse?“

„Ja.“

„Hä, also seid ihr doch in einer Klasse. Ist er sitzengeblieben?“

„Nein, wir sind nicht in einer Klasse.“ Dieses Gespräch haben wir öfter. Ich bin nur froh, dass wir von Ciaran wegkommen. „Du hast gefragt: Seid ihr nicht in einer Klasse? Ja, wir sind nicht in einer Klasse“, versuche ich, zu erklären.

„Das ist doch nur logisch“, kommt mir Marie zu Hilfe. Wir lächeln uns an. Ich weiß, wir denken dasselbe: Wir verstehen uns.

„Ist ja auch egal“, meint Sabine. „Ihr seid also nicht in derselben Klasse. Wie habt ihr euch dann kennengelernt?“

Jetzt muss ich diese Geschichte auch noch erzählen. „Mir ist auf dem Schulhof die Tasche runter gefallen und er hat mir eben geholfen.“ Mit einem genervten Tonfall versuche ich, zu signalisieren, dass ich keine Lust auf solch ein Gespräch habe. Leider funktioniert es nicht.

Thomas und Sabine wechseln einen Blick.

„Weißt du Alice, bei solchen Männern muss man vorsichtig sein. Die meisten helfen nur, wenn sie etwas von dir wollen“, erklärt Sabine. Thomas hält sich rücksichtsvoll raus.

„Ich werde jawohl noch am besten beurteilen können, ob Ciaran nett ist oder nicht. Ihr kennt ihn nicht mal und meint schon, euch über ihn ein Urteil bilden zu müssen. Das ist nicht fair“, sage ich und es ist meine ehrliche Meinung. Still essen wir weiter.

„Darf ich denn jetzt bei Chiara übernachten?“, fragt Marie irgendwann.

„Ja sicher, wenn Chiara will und wenn es für ihre Eltern in Ordnung ist“, sagt Sabine sofort.

„Aber sei vorsichtig“, klinke ich mich ein, „sie könnte etwas von dir wollen.“

Die Worte sind an Sabine und Thomas gerichtet, obwohl ich mich an meine Schwester gewendet habe und Marie weiß das auch. Ich bin fertig mit dem Essen und rolle aus der Küche.

In meinem Zimmer setzte ich mich sofort an den Computer, den Thomas mittlerweile angeschlossen hat, und rufe über Skype Elli an. Sie ist offensichtlich nicht da, genauso wie Laura, Markus und Simon. Da fällt mir ein, dass sie alle in der AG sind, in der man die dritte Fremdsprache lernt. Ich war früher auch da. Simon, Markus und Elli sind in Spanisch, Laura und ich hatten Russisch. Nun ist sie alleine.

So fange ich mit den Hausaufgaben an. Als ich damit fertig bin, begebe ich mit meinen Malsachen und meinem Buch nach draußen. Es ist ziemlich warm. Wärmer als dort, wo wir früher gelebt haben. Ich schlage meinen Zeichenblock auf. Sofort fällt mir Ciarans unfertiges Portrait in den Schoß. Ich versuche, es zu Ende zu zeichnen, doch es gelingt mir wieder nicht. Weil ich keine Ideen habe, was ich sonst zeichnen soll, schlage ich mein Buch auf. Es heißt die Drachenkämpferin und handelt von einem Mädchen, das von klein auf Drachenkämpferin werden wollte, um in den Krieg zu ziehen, und nun versucht, ihren Traum zu verwirklichen, was nicht leicht ist, da sie eine weibliche Person ist. Ich habe vielleicht zwei Seiten gelesen, als Sabine raus kommt und mir das Telefon reicht.

„Ist für dich“, sagt sie und verschwindet wieder im Haus, nachdem ich es ihr aus der Hand genommen habe.

„Hallo?“, spreche ich in den Hörer.

„Hi, Alice, ich bins!“ Wer ist ich? Die Stimme, die mir entgegenschallt ist eindeutig Finnies. „Ich wollte fragen ob du heute was vor hast? Weil sonst würde ich jetzt zu dir kommen und wir könnten zusammen was machen. Vielleicht ein bisschen quatschen oder einen Film gucken, oder so...“

„Ja, also ich hätte Lust“, sage ich.

„Okay, dann komm ich jetzt vorbei“, sagt sie, „bis gleich.“

„Warte, du weißt doch gar nicht, wo...“ Zu spät, sie hat bereits aufgelegt.

Sie ist wirklich innerhalb von fünfzehn Minuten da und ich frage mich, woher sie weiß, wo ich wohne. Hoffentlich gibt es nicht irgend so eine Liste und jeder aus der Klasse weiß meine Kontaktdaten. Es ist zwar gut, die der anderen zu wissen, aber wenn man die, die seine kennen, nicht kennt und man die Daten dieser Leute nicht hat, ist das schon nicht mehr so toll.

Es klingelt, ich rolle zur Tür und mache sie auf, indem ich mich neben den Griff stelle und die Tür einfach aufschwingen lasse. Sie fällt zum Glück, anders als die in der Schule, nicht von alleine wieder zu.

„Hallo, Finnie“, begrüße ich sie, „komm rein.“ Sie macht hinter sich die Tür zu und schaut sich um.

„Boah, ist das ein cooles Haus!“, meint sie. „Wo ist dein Zimmer?“ Ich zeige es ihr und sie ist noch mehr aus dem Häuschen. Sie macht die Terrassentür auf und geht raus. Ich folge ihr leise lächelnd. Finnie dreht eine Runde um das Haus, bis sie unseren Teich entdeckt. „Oh wow, ich habt sogar einen Teich!“, ruft sie beeindruckt. „Hast du nicht gesagt, dass ihr wegen eines besseren Jobs und mehr Geld hierhin gezogen seid?“

Ich muss zugeben, genau diese Frage habe ich mir schon hundert Mal gestellt. Nachdem sie alles genauestens inspiziert hat, schlägt sie vor: „Lass uns was im Garten machen. Das Wetter ist so schön.“

„Okay“, meine ich, „ich kümmere mich um ein paar Sachen, die wir schnuckeln können, oder so.“

„Okay, ich durchwühle dein Zimmer und guck nach was, was wir machen können.“ Und schon ist sie verschwunden. Ich glaube, sie fühlt sich hier wohl.

In den Küchenschränken und Schubladen finde ich Kaubonbons, Schokolade und Käsekräcker. Ich nehme außerdem noch Plastikbecher und eine Flasche Wasser mit nach draußen. Ich rolle die Rampe hinter dem Haus an der Veranda hinunter und zum Gartentisch aus Holz. Die Sachen lege ich darauf und denke daran, dass es nicht so praktisch gewesen war, Schokolade mitzunehmen, weil sie in dieser Sonne bestimmt schmilzt. Finnie lässt nicht lange auf sich warten. Sie reißt sofort die Käsekräckerpackung auf, als sie sie entdeckt. Neugierig beeuge ich, was sie mitgebracht hat. Ein Spiel namens Phase 10, Stifte und natürlich meinen Zeichenblock. Sie steckt sich einen Käsekräcker in den Mund und greift nach dem Block. Ich will sie aufhalten, aber da hat sie ihn schon aufgeschlagen und studiert, was ich gemalt habe. Sofort verdunkelt sich ihr Blick, während sie sich hinsetzt. Sie kann sich mit Ciaran zwar arrangieren, aber mögen ist was anderes. Ich beobachte sie genau. Sie grübelt und steckt sich einen weiteren Kräcker in den Mund.

„Alice, ich muss dich warnen“, sagt sie, von der Fröhlichkeit von eben ist nichts mehr zu sehen. „Ciaran ist kein normaler Typ. Er ist... schwierig. Mit ihm musst du vorsichtig sein.“

„Wieso?“ Ich bin mir wirklich nicht sicher, was bitte das Problem sein soll, dass ich Ciaran male.

„Wenn man zu viele Gefühle zulässt, kann man sehr schnell verletzt werden.“

„Wieso denn Gefühle? Ich kann dir versichern: Ich hege für Ciaran nicht mehr Gefühle, als für dich“, versichere ich Finnie.

„Na, wenn du meinst...“, meint sie, aber sie runzelt die Stirn und es ist eindeutig, dass sie mir nicht glaubt. Sie nimmt noch zwei Kräcker und beginnt, selbst was zu zeichnen.

„Sollen wir nicht lieber Phase 10 spielen?“, schlage ich vor.

„Ja, gleich“, sagt sie abwesend, „misch doch schon mal.“

Ich tue, was sie sagt und teile auch schon aus. Dann nehme ich mir selbst einen Käsekräcker und schaue ihr beim Zeichnen zu. Immer wieder schaut sie auf, lächelt und blickt dann wieder auf den Block. Irgendwann wird das ganze dann doch langweilig. Ich lege meinen Kopf zurück und schließe die Augen. Die Sonne scheint warm auf mein Gesicht. Muster tauchen vor meinem inneren Auge auf. Ich muss lächeln. Es ist das Muster des Tatoos von Ciaran. Ich muss wieder daran denken, wie er mir auf dem Schulhof geholfen hat. Nein, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Ciaran Hintergedanken hat und nur deswegen geholfen hat. Er ist nett, das sieht doch jeder, der ihn nur ein bisschen näher kennenlernt.

„So, ich bin fertig“, meint Finnie und ich mache die Augen wieder auf. Sie hält mir den Zeichenblock umgedreht entgegen, sodass ich sehen kann, was sie gemalt hat. Es ist ein Portrait von mir und es ist verdammt gut getroffen. Obwohl... der Ausdruck... die Person auf dem Bild sieht sehr, sehr glücklich aus. Bin ich das? Glücklich? Ja, ich denke schon. Finnie signiert das Portrait und schenkt es mir.

„Vielen, vielen Dank, Finnie“, sage ich überschwänglich. „So ein schönes Portrait hätte ich nicht mal im Künstlerviertel Montmartre erwerben können und hier bekomme ich es sogar umsonst!“ Finnie lächelt, sie freut sich sichtlich über das Lob, was mich wiederum fröhlich stimmt. Den Rest des Nachmittages verbringen wir mit Käsekräcker essen, quatschen, Phase 10 spielen und noch mehr Käsekräcker essen. Das wird Marie nicht gefallen. Sie liebt diese Dinger. Finnie ist wirklich eine tolle Freundin. Mit ihr kann man sich den Mund fusselig reden und lachen, bis die Bauchmuskeln schmerzen. Wie früher. In solchen Momenten kann ich vergessen, dass ich Freunde ganz woanders habe und die ich zurückgelassen habe.

Am Abend geht sie schließlich wieder. Sie ist wohl mit ihrem Fahrrad hergefahren, weil sie in dem zwei Kilometer entfernten Nachbardorf wohnt. Allerdings sind unsere Busverbindungen so dämlich aufgebaut, dass sie zwei Busse schicken und wir nicht im selben fahren können. Das wäre viel schöner gewesen.

Nachdem sie weg ist, gehe ich in mein Zimmer, um meinen Rucksack für morgen zu packen. Es ist schon ziemlich spät und außerdem schon dunkel. Marie ist schon im Bett und Thomas und Sabine sitzen im Wohnzimmer auf der Couch und schauen sich was im Fernsehen an. Ich rolle zu ihnen und sage, dass ich jetzt ins Bett gehen wolle. Es nervt mich jedes Mal aufs Neue, Thomas und Sabine aus ihrer Beschäftigung zu reißen und um Hilfe zu bitten, das lässt sich nicht leugnen. Natürlich machen sie es gerne, was sie mir auch immer wieder versichern, aber ich will einfach kein Pflegefall sein, egal ob meine Pfleger mir gerne helfen oder nicht.

Im Bett wische ich diesen Gedanken jedoch aus meinem Kopf und denke an den vergangenen Tag. Mit den schönen Erinnerungen schlafe ich schließlich ein.

Am Morgen läuft alles wie gewohnt. In der Schule ebenfalls: Ciaran holt mich vom Bus ab und hilft dem alten Fahrer wie immer, die Rampe aufzubauen. Dann schiebt er mich Richtung Gebäude. Finnies Bus fährt viel später, weshalb wir die Minuten, bevor die Schule beginnt, für uns haben.

„Und, was hast du gestern gemacht?“, fragt mich Ciaran. Smalltalk, wie immer.

„Finnie war bei mir. Wir haben Phase 10 gespielt und gequatscht“, erzähle ich, „und du?“

„Ach, eigentlich nichts besonderes. Hausaufgaben halt“, meint er. Eine Weile herrscht Schweigen. Dann fragt er plötzlich: „Hast du am Wochenende schon was vor?“

„Nein, ja, also am Samstag geht's nicht, weil meine Eltern nicht zu Hause sind. Das müssten dann erst mal unsere Aufpasser“, ich betone das Wort absichtlich abfällig, „erlauben“, erkläre ich.

„Wer kommt denn zu euch?“

„Keine Ahnung. Sabine und Thomas wollten glaube ich unsere Nachbarn fragen.“

„Nun, wenn ihr niemanden findet, kann ich auch kommen“, meint er gedehnt.

„Und wenn wir jemanden fänden?“, frage ich verschmitzt.

„Dann kann ich auch“, er lächelt. Ich lächele auch, aber dann muss ich daran denken, dass Sabine und Thomas das nicht erlauben würden.

„Sabine und Thomas sind dir gegenüber sehr misstrauisch“, gestehe ich. „Sie denken, du wolltest was von mir und deine Hilfe wäre nur ein Mittel zum Zweck. Ich finde das unfair. Ich meine, sie kennen dich doch gar nicht und können gar nicht wissen, dass du ein total netter Typ bist. Sie verurteilen dich, bevor sie dich weder gesehen noch kennengelernt haben.“

„Danke.“

„Wofür?“

„Für die netten Worte. So was sagt nicht oft jemand zu mir.“ Seine Stimme ist leise.

„Ist doch wahr“, meine ich und greife nach dem Türgriff. Er sagt nichts darauf. Wir setzten uns auf eine Bank im Flur, beziehungsweise er setzt sich. Ich sitze ja schon.

„Wann fängt dein Unterricht an?“, frage ich.

„Jetzt in der ersten Stunde“, sagt er, „genau wie deiner.“ Im Gegensatz zu mir kennt er meinen Stundenplan auswendig. Allerdings ist es nicht schwer, sich zu merken, wann ich ab der ersten Stunde Unterricht habe. Das ist nämlich jeden Schultag in der Woche der Fall.

Wir sitzen in entspanntem Schweigen da, bis es klingelt. Das ist das Schöne, wenn man mit ihm zusammen ist: Man hat nicht ständig das Gefühl, etwas sagen zu müssen, man kann auch einfach mal schweigen. Er schiebt mich zum Fahrstuhl, dann verabschiedet er sich. Es ist ihm sichtlich unangenehm, wenn Finnie nicht da ist, die mit mir im Aufzug mitfährt. Meistens kommt sie, bevor es klingelt, aber manchmal kommt sie auch zu spät und dann fahre ich immer alleine. Besonders heute ist Ciaran darüber unglücklich, weil er im ersten Stock Biologie und ich im zweiten Geschichte habe. Ich versichere ihm, dass ich schon alleine klarkomme, dann schließen sich auch schon die Türen.

Ich will beweisen, dass ich alleine klarkomme. Ich will alleine klarkommen. Nur leider darf sich meine Umwelt dann nicht gegen mich richten.

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