Lektion #43

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„Mr. Patterson", sagt die Frau und betrachtet mich eingehend. Für einen Moment bin ich verwirrt. Woher kennt sie meinen Namen? Hat Marshall ihr von mir erzählt? Was hat er ihr erzählt?
Das ist dieser kleine Student, mit dem ich etwas hatte. Aber es war nur eine Vernarrtheit, das vergeht immer.

Ich schiebe den Gedanken beiseite, mache einen Schritt rückwärts und wische mein Gesicht ab.
„Ich muss ... ist ... ist Professor Holt da?", stammle ich mit belegter Stimme.
„Nein", sagt sie ruhig. „Er ist gerade nicht verfügbar."

Sie redet wie er, gewählt und mit Bedacht. Kein Wunder, dass er sie mag. Benutzt sie im Bett auch so schmutzige Worte wie er? Ich kneife meine Augen zusammen, um nicht darüber nachzudenken.
„Ich muss wirklich dringend mit ihm sprechen", presse ich hervor. „K-Können Sie mir sagen, wo er ist?"
Sie schüttelt ihren Kopf und sieht mich schon fast mitleidig an. „Dazu bin ich leider nicht befugt."

Ich fahre mir zittrig mit meinen Fingern durch meine Haare und tigere vor ihr auf und ab. „Hören Sie, Miss", beginne ich. „Es ist wirklich wichtig, dass ich mit ihm rede. Es dauert nicht lange, nur ich muss ihm dringend etwas sagen."
„Er möchte dich nicht sehen, Louis", sagt sie deutlich und ich bleibe wie versteinert stehen. Entsetzt starre ich in ihre Augen und erst jetzt scheint ihr bewusst zu werden, dass sie mit dieser einzelnen, unüberlegten Aussage schon zu viel preisgegeben hat. Überrascht schlägt sie ihre Hand vor ihren Mund.

„O-Okay", stottere ich, obwohl es mir das Herz bricht. Er hat mit ihr über mich gesprochen und er will mich noch nicht einmal mehr sehen.
„I-Ich ... k-könnten Sie ihm dann etwas von mir ausrichten? Bitte?", schluchze ich nun und wische mir nervös durchs Gesicht. Ich bekomme kaum Luft und atme nur noch stockend, als hätte ich Schluckauf.
Die Frau scheint nun wirklich Mitleid mit mir zu haben, denn sie nickt vorsichtig.

„K-könnten Sie ihm s-sagen, d-dass ...", schluchze ich und versuche noch immer zu atmen.
„Vielleicht beruhigen Sie sich erst einmal", beginnt sie, doch ich schüttele nur trotzig meinen Kopf und probiere es erneut.
„I-Ich w-wollte n-nur, d-dass er w-w ... verdammt!", schluchze ich und bin kurz davor zu kollabieren, so kurzatmig bin ich schon. Mein Brustkorb zieht sich mit jedem Atemzug schmerzhaft zusammen.

Die Frau verschwindet in Marshalls Büro und kommt kurz darauf mit einem Zettel und einem Stift zurück.
„Schreiben Sie es auf", bietet sie an. Mit einem dankbaren Blick nehme ich beides entgegen und kritzele wild das, was ich Marshall zu sagen habe, auf den Zettel.

Marshall,

Melanie Collins hat gesehen, wie ich in deine Wohnung gegangen bin. Es tut mir leid. Ich wollte nie, dass du wegen mir Schwierigkeiten bekommst.
Ich wünsche mir, dass du glücklich wirst. Ich werde die Zeit mit dir nie vergessen.

In Liebe,
Dein Louis

Post Scriptum: Auch, wenn die Situation den falschen Eindruck vermittelte, hatte ich nie etwas mit Billy Fowler. Ich hoffe, deine Freundin weiß, wie groß ihr Glück ist.

Ich falte den Zettel zusammen und gebe der Frau den Zettel und den Stift zurück. Sie reicht mir stattdessen ein Taschentuch und ich schniefe stockend: „D-danke."
Bevor sie noch irgendetwas sagen kann, drehe ich mich um und gehe langsam nach draußen.

Ich atme schluchzend ein und gehe dann ein Gebäude weiter, um dort an eine weitere Bürotür zu klopfen.

•••

„Alter, bist du sicher, dass du das durchziehen willst?", fragt Andy mich einen Monat später. Ich packe gerade meine letzten Sachen zusammen und seufze zum wiederholten Mal.
„Andy, es sind nur zwanzig Minuten von hier und so eine Chance bekomme ich nie wieder", antworte ich.
„Aber wenn es dir nicht gefällt, kommst du zurück, okay?", jammert er.
Ich lache trocken und ziehe ihn in eine freundschaftliche Umarmung. „Du wirst doch gar nicht merken, dass ich nicht da bin."

Heute ist mein letzter Tag an diesem College und morgen mein erster Tag an der technischen Universität, die wirklich ganz in der Nähe liegt.
Professor Davids hatte mit einem Kollegen dort über meine Talente im Programmieren gesprochen und da ein anderer Student sein Studium dort vorzeitig abgebrochen hatte, konnte ich den Platz übernehmen. Mein Vorteil dabei ist, dass ich schon in zwei Semestern meinen Abschluss in der Tasche haben werde. Mein Nachteil ist, dass ich dort niemanden kenne. Wobei das wohl auch eher ein Vorteil ist..

Ich werde Andy sehr vermissen, aber es war die beste Lösung für mich.. und vor allem für Marshall, auch, wenn er davon vermutlich nichts mitbekommen hat. Ich habe ihn inzwischen nicht mehr gesehen. Ich weiß, dass er noch da ist, denn ich habe die Ausschreibung für seinen Literaturkurs für Fortgeschrittene gesehen.

Er fehlt mir. Jeden Tag. Ich hoffe, dass es irgendwann besser wird, aber im Moment macht es nicht den Anschein.

Melanie Collins durfte ihr Studium ebenfalls vorzeitig beenden. Ich gab Professor Davids den Tipp, sich ihre Anwesenheiten einmal anzusehen, denn bis zu diesem einen Tag hatte ich sie noch nie in der Vorlesung gesehen. Es stellte sich heraus, dass sie mehrere Studenten bestochen oder auch erpresst hatte, ihre Unterschrift auf der Liste zu fälschen und sogar Arbeiten in ihrem Namen abzugeben.
Mit meiner Erklärung, dass sie auch versucht hatte, mich mit einer an den Haaren herbeigezogenen Geschichte über Professor Holt und mich, zu erpressen, nahm ich ihr glücklicherweise den Wind aus den Segeln und niemand schenkte ihren Beteuerungen Glauben.

„Wir sehen uns einmal in der Woche, klar?", holt Andy mich zurück in die Realität. Ich nicke und nehme meine Taschen.
„Freitags bei Giovanni", verspreche ich.

•••

Wie versprochen, warte ich den Freitag darauf vor dem Restaurant auf Andy und Sally. Schon von Weitem kann ich Sallys rote Haare erkennen und verdränge die Erinnerungen an den Abend, als ich zuletzt hier war. Von Billy habe ich seitdem zum Glück nie wieder etwas gehört.

Sally und Andy fallen mir in die Arme und wir gehen gemeinsam ins Restaurant. Unwillkürlich wandert mein Blick zu dem Tisch, an dem Marshall und seine Freundin beim letzten Mal saßen. Er ist leer. Natürlich. Wie albern von mir. Ich zwinge mir ein Lächeln auf mein Gesicht und wende mich meinen Freunden zu.

„Und?", frage ich. „Was gibt's Neues?"
„Oh", sagt Andy und schaut von der Speisekarte auf. „Du wirst wohl vermisst."
Ich runzle die Stirn. „Fang bitte nicht wieder mit Billy an", grummle ich und auch Sally verzieht ihr Gesicht.
„Nein, Mann", winkt Andy ab. „Der Schnösel war die Woche bei mir und hat nach dir gefragt."

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now