Lektion #38

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Von: lou.patterson@gmail.com
An: professor.holt@gmail.com
Betreff: Heute Abend

Marshall,

heute Abend wird leider nichts. Andy und seine Freundin Sally haben mich zu einem Doppeldate verdonnert und ich weiß nicht, wie lange das geht.
Es tut mir wirklich leid, ich vermisse dich.

Lou

„Alter, kommst du jetzt?", ruft Andy mittlerweile genervt und ich klappe schnell meinen Laptop zu, nachdem ich die E-Mail an Marshall geschickt habe. Ich habe so gar keine Lust auf dieses dumme Date, aber ich möchte Andy nicht noch mehr anlügen müssen.

Seufzend folge ich ihm und ziehe auf dem Weg nach draußen den Reißverschluss meiner Jacke zu. Ich bin etwas verwundert, als wir zu Fuß den Campus verlassen und nach etwa weiteren fünfzehn Minuten an einem kleinen italienischen Restaurant ankommen.

„Mir war gar nicht klar, dass hier in der Nähe ein Restaurant ist", stelle ich erstaunt fest.
„Ja, Sally und ich waren schon oft bei Giovanni. Die Pizza Calzone ist göttlich", schwärmt mein bester Freund.
Ein Italiener, der Giovanni heißt, wie originell, denke ich. Bevor ich meinen Witz darüber zum Besten geben kann, erkenne ich vor dem Eingang des Restaurants Sallys rote Haare und Billy, der neben ihr steht, seine Hände tief in seinen Manteltaschen vergraben.

Als er mich sieht, werden seine Wangen etwas rot und er lächelt schüchtern. Oh oh.
Andy umarmt Sally und küsst sie innig, während ich nur ein „Hi" in die Runde rufe. Billy tritt dicht vor mich und schaut mir tief in die Augen. Seine Hand ergreift meine und er haucht: „Hi Lou."
Ich schlucke und lächle verlegen.

Andy und Sally schauen uns belustigt an und ich trete schnell einen Schritt zurück.
„Puhh, ganz schön kalt heute", sage ich schnell. „Wollen wir erst mal reingehen?"
„Deine Hand ist auch ganz kalt", säuselt Billy und verschränkt seine Finger ungefragt mit meinen. Sallys und Andys Grinsen wird immer breiter und beide gehen vor ins Restaurant, während Billy mich an der Hand hinter sich herzieht.

Wir werden an einen winzigen Tisch für vier Personen geleitet, Andy und Sally setzen sich natürlich sofort nebeneinander, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als mich neben Billy zu setzen. Ich atme tief durch und rede mir selbst gut zu, dass es nur ein einziger Abend ist und ich das schon irgendwie schaffen werde. Wenn es nicht allzu lange dauert, kann ich mich vielleicht doch noch bei Marshall vorbeischleichen.

Außer unserem Tisch gibt es vielleicht noch zehn andere Tische im Restaurant und an den meisten sitzen Studenten. Andy und Billy beginnen, irgendwas über die Verbindung zu erzählen, Sally lacht ab und zu und ich versuche zumindest halbwegs, dem Ganzen zu folgen, obwohl es mich nicht im geringsten interessiert.

„Einen Tisch für zwei", höre ich plötzlich eine mir bekannte Stimme und drehe mich zur Tür um. Da steht mein Literaturprofessorfreund und neben ihm eine hübsche Frau, die ich nicht kenne, die aber ihren Arm bei ihm untergehakt hat. Was zum–?

„Findest du nicht auch, Lou?", lacht Billy neben mir und legt seine Hand auf meinen Unterarm. Ich reiße meinen Blick von Marshall los und zwinge mir ein Lächeln auf mein Gesicht. Das Brennen in meiner Brust versuche ich zu ignorieren.
„Ist das da nicht dein spießiger Literaturprofessor?", fragt Andy plötzlich und sieht in Marshalls Richtung. Billy, Sally und ich folgen seinem Blick und genau in diesem Moment sieht Marshall zu uns herüber.
„Du hast Literatur bei Professor Holt?", fragt Billy und nimmt mitleidig meine Hand. „Das ist echt hart."

Verwirrt sehe ich Billy an. „Was?"
„Sieht ja so aus, als hätte er doch ein Privatleben", lacht Andy und ich schaue wieder zu Marshall. Sein Blick ruht noch immer auf mir und zuckt kurz zu Billys Hand, die auf meiner liegt. Schnell ziehe ich meine Hand vom Tisch. Seine Begleitung flüstert etwas in sein Ohr und sie werden ans andere Ende des Restaurants geführt, wo ich ihn leider nicht mehr sehe.

Der Kellner kommt, um unsere Bestellungen aufzunehmen und ich befürchte, mich gleich übergeben zu müssen.
Wer ist diese Frau? Was denkt er wohl darüber, dass Billy meine Hand genommen hat? Ich würde ihm das gern erklären und ich hätte gern eine Erklärung. Ich versuche, die Eifersucht in meinem Bauch herunterzuschlucken, aber sie sitzt heiß und fest in meinem Magen und ich kann mich kaum noch auf das Gespräch meiner Freunde konzentrieren.

Nachdem der Kellner unsere Getränke gebracht hat, entschuldige ich mich kurz und suche die Toiletten. Dabei sehe ich auch Marshall und die hübsche Frau an ihrem Tisch. Sie unterhalten sich angeregt, er lacht leise und sie nimmt über den Tisch hinweg seine Hand. Ich bleibe wie erstarrt mitten im Restaurant stehen und sie entdeckt mich auch noch. Marshall folgt ihrem Blick und als er mich ansieht, drehe ich mich schnell um und flüchte zu den Toiletten.

Ich spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und atme tief durch. Kann er bitte jetzt hierher kommen und mir das erklären? Ich stehe da und warte, doch nichts passiert. Er kommt nicht.
Plötzlich öffnet sich die Tür und ich fahre erleichtert herum.
„Ist alles okay, Lou?", fragt Billy, der hereinkommt.
„J-ja", stammle ich.
„Hey," sagt er besorgt und kommt auf mich zu. „Du bist ganz blass. Sicher, dass es dir gut geht?"

Seine Hände legen sich an meine kalten Wangen und gerade, als ich ausweichen will, geht die Tür erneut auf und Marshall kommt herein. Er sieht uns, Billy dreht sich zu ihm um und Marshall sagt nur knapp: „Es ist recht überfüllt hier. Lassen Sie sich durch mich nicht stören."
Bevor ich etwas antworten kann, ist er wieder verschwunden.
Fuck!

Billy dreht sich zurück zu mir und nimmt wieder meine Hände. „Der redet immer, als hätte er einen Stock im Arsch", lacht er abfällig.
Ich ziehe meine Hände aus seinen und funkele ihn an. „Er drückt sich gewählt aus, das können heutzutage nur die Wenigsten."
„Oh", lacht er verlegen. „Na gut, so kann man es auch sehen."
Ich drücke mich an ihm vorbei und gehe zurück ins Restaurant. Dort sehe ich gerade noch, wie Marshall und seine Begleitung durch die Ausgangstür gehen, seine Hand in ihrem Rücken.
Fuck!

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now