Lektion #37

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Der Rest der Woche verläuft leider nicht weniger frustrierend für mich. Zwar verspäte ich mich nicht noch einmal zu Marshalls Vorlesung, aber er hat jeden Tag bis nach seiner Sprechzeit Termine mit anderen Studenten, die um ihre Note fürchten und ich bin so mit meinen neuen Programmiertechniken und den entsprechenden Aufgaben, die diese mit sich bringen, beschäftigt, dass wir es nicht schaffen, uns zu sehen.

Inzwischen ist es Freitagabend und ich sehe auf die Uhr an meinem Laptop. Es ist kurz nach halb zehn Uhr abends, Andy ist mit Sally unterwegs und ich habe gerade mein Informatikprojekt beendet, das ich am Montag abgeben muss.
Ich beschließe, meinem Literaturprofessorfreund eine E-Mail zu schreiben, darf aber feststellen, dass er offenbar den gleichen Gedanken hatte. Nur eben früher als ich.

Von: professor.holt@gmail.com
An: lou.patterson@gmail.com
Betreff: Fehlende Nähe

Lieber Louis,

es tut mir leid, dass diese Woche so überfüllt mit Terminen war und wir uns leider, abgesehen von unserem kurzen Treffen am Montag und den Vorlesungen (die für mich nicht zählen, da ich dich währenddessen weder küssen, noch berühren, noch ausreichend betrachten konnte), nicht sehen konnten. Deine Nähe fehlt mir sehr und das wollte ich dich nur wissen lassen.

Besteht eventuell die Möglichkeit, dass wir uns morgen Abend sehen können? Geht dein Mitbewohner unter Umständen studentischen Freizeitaktivitäten nach?

Von Herzen

Dein Marshall

Ich grinse so breit, dass ich befürchte, mein Gesicht spaltet sich gleich in zwei Teile. Ich muss mich sogar zusammenreißen, keine quietschenden Geräusche von mir zu geben, so süß finde ich seine E-Mail. Wieder einmal ärgert es mich, dass er kein Smartphone hat, denn wieviel einfacher wäre es jetzt, ihn einfach anzurufen und seine Stimme zu hören oder ihn gar über Videochat zu sehen.

Also öffne ich eine neue E-Mail und antworte ihm.

Von: lou.patterson@gmail.com
An: professor.holt@gmail.com
Betreff: Fehlende Nähe - und wie!

Lieber Marshall,

deine E-Mail war so unglaublich süß! Ja, ich würde mich sehr gern morgen Abend mit dir treffen. Andy wird vermutlich etwas mit Sally oder seiner Verbindung unternehmen, höchstwahrscheinlich auch beides.

Soll ich dann zu dir kommen? Möchtest du dich lieber an einem anderen Ort treffen? Ich befürchte, dass das Wohnheim nicht genügend Privatsphäre bzw. Geheimhaltung gewährleistet, anderenfalls hätte ich auch ein Treffen in meinem Bett vorgeschlagen. Es tut mir leid, wenn diese Aussage vielleicht etwas eindimensional klingt, aber ich vermisse dich und deine Nähe ebenfalls so sehr, dass ich schon fast befürchte, nicht mehr zu wissen, wie sie sich eigentlich anfühlt.

Ebenfalls von Herzen

Lou

Ich muss nicht lange warten, schon kommt seine Antwort. Dass er so schnell so fehlerfrei tippen kann, beeindruckt mich noch mehr. Andererseits habe ich auch nichts anderes erwartet.

Von: professor.holt@gmail.com
An: lou.patterson@gmail.com
Betreff: Erinnerungen

Liebster Louis,

1. Ich bin nicht süß. Du hingegen schon. Deine E-Mail war es auf jeden Fall.
2. Wir müssen deine Erinnerungen an Nähe unbedingt erneuern und gegebenenfalls vertiefen.
Ich schlage ein weiteres Treffen in meinem Büro mit anschließendem Aufenthalt in meiner Wohnung vor.
3. Deinen Vorschlag in Bezug auf das Bett fand ich ganz und gar nicht eindimensional, sondern kann dies nur bestätigen. Ich finde übrigens, dass unsere Gespräche im Bett immer die schönsten sind.

Von ganzem Herzen

Dein Marshall

Jetzt quietsche ich. Andy ist nicht da und keiner kann mich hören und ich quietsche wie eine Zwölfjährige, die gerade ein süßes Hundebaby sieht. Meine Finger fliegen förmlich über die Tastatur als ich meine Antwort tippe.

Von: lou.patterson@gmail.com
An: professor.holt@gmail.com
Betreff: Erinnerungen

Liebster Marshall,

1. Bist du doch. Ich habe gerade quietschende Geräusche gemacht und das ist der ultimative Beweis, dass deine E-Mail (und damit auch du als ihr Verfasser) süß ist.
2. Dem Vertiefen kann ich nur zustimmen. Ohne irgendetwas zu planen, aber ich freue mich auf weitere Gespräche (und anderes) in deinem Bett.
3. siehe 2.

Ebenfalls von ganzem Herzen

Dein Lou

Eine weitere Antwort bekomme ich nicht, aber ich grinse dennoch vor mich hin. Vorfreude, Marshall morgen wiederzusehen, durchströmt mich und ich lasse mich auf mein Bett zurückfallen.

•••

Am nächsten Morgen öffne ich meine Augen und erschrecke mich fast zu Tode. Andy hockt vor meinem Bett und grinst mich an.
„Was zur–?", schreie ich, setze mich auf und robbe, soweit es geht, von ihm weg. Da mein Bett schmal ist, sind das vielleicht nur dreißig Zentimeter, aber ich bin auch gerade erst aufgewacht.
„Guten Morgen, Lou", singt er und grinst weiterhin so irre.
Okay, irgendwas muss gestern bei seinen Lambda Lambda Idioten richtig schief gelaufen sein. Vielleicht war der Trichter aus Weichplastik und krebserregende Chemikalien haben sich gelöst und sein Hirn verstopft.

Meine Augen formen sich zu Schlitzen. „Warum machst du einen auf Creep und beobachtest mich beim Schlafen?", frage ich argwöhnisch.
Andy lacht nur und antwortet: „Ich bin auch gerade erst aufgestanden und dachte, ich gucke dich einfach wach. Meine Cousine hat das früher bei meinem Onkel immer gemacht, das war richtig gruselig."
„Hör auf damit und tu es nie wieder!", meckere ich.
Andy hebt beschwichtigend die Arme. „Alles gut, Mann."

Ich reibe mir müde die Augen und will gerade aufstehen, aber er verschwindet nicht, sondern versperrt mir den Weg.
„Ist noch was?", frage ich.
„Heute Abend."
„Ganze Sätze?"
Oh, ich klinge fast schon wie Marshall. Wobei der vermutlich gemeckert hätte, dass meine Anweisung auch kein ganzer Satz ist. Halt, nicht an Marshall denken, Andy wollte was sagen, weise ich mich selbst zurecht.

„Heute Abend hast du ein Date."
Fast sage ich ‚Ich weiß.', halte mich aber im letzten Moment zurück und starre Andy nur fragend an.
„Du und Billy. Und damit du auch wirklich hingehst und auch was sagst, sind Sally und ich dabei", erklärt er.
„Ein Doppeldate?", frage ich entsetzt.
Andy nickt und grinst dabei wie ein Golden Retriever, der gerade zum ersten Mal einen Ball apportiert hat.

Ich rolle mit den Augen und schüttle meinen Kopf.
„Nein, Andy", jammere ich.
„Doch, Lou", äfft er mich nach. „Du kannst nicht absagen. Wir haben schon einen Tisch reserviert."
„Warum macht ihr sowas?"
„Weil es Zeit wird, dass du auch mal zum Zug kommst." Er zwinkert mir allen Ernstes nochmal zu, als wäre er mein Dad und hätte einen Du-weißt-schon-was-Spruch gelassen.
„Alter!", rufe ich und er klopft mir nur auf die Schulter.
„Bedank dich später", sagt er nur lachend und steht endlich auf.

Ich schnaube wütend und will mir am liebsten die Haare ausreißen.

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now