Lektion #2

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Nach weiteren zehn Minuten finde ich endlich dieses dumme Haus. Allerdings auch nur, weil ich Andy mit Hilfe einer App auf meinem Handy tracken kann und so feststellen konnte, wo er sich aufhält.

Im Foyer des Hauses, an dem natürlich auch irgendwelche griechischen Buchstaben stehen, sind mehrere Tische aufgestellt, an denen sich die Studentenverbindungen offenbar den Neuankömmlingen – und in meinen Augen potenziellen Opfern – präsentieren.
Andy kommt mir mit mehreren Flyern entgegen und ein Muskelprotz von einem der Stände ruft ihm nach: „Go Andy, go!"
Ich hebe eine Augenbraue und mein bester Freund lacht mich an.
„Schon Freunde gefunden?", frage ich skeptisch.
„Hey Lou", grinst Andy. „Ja, die Jungs von Lambda Lambda Iota sind total cool."
„Aha", mache ich und sehe skeptisch auf den Flyer, den er mir in die Hand drückt. „Und das steht für? Lauter lustige Idioten?"
„Ha ha, Lou", mault Andy. „Mann, es ist doch voll spannend, in einer Verbindung zu sein. Man hilft sich gegenseitig beim Lernen, sie schmeißen Parties, man lernt Mädels kennen ..."

Ich lache und schüttele den Kopf. „Warum habe ich das Gefühl, dass nur Punkt zwei und drei für dich relevant sind?"
„Machst du nun mit?"
Wieder schüttele ich meinen Kopf. „Sorry, Alter. Mach du mal, aber ich bin raus." Ich klopfe ihm auf die Schulter und verlasse das Haus so schnell wie möglich wieder, bevor irgendwer versucht mich für seine Verbindung zu akquirieren.

Draußen begegnet mir schon wieder dieser Spießertyp. „Wie ich sehe, konnten Sie das gesuchte Gebäude ausfindig machen", quatscht er mich voll.
„Ja", erwidere ich kühl. „Und es ist auch noch ein Platz frei für dich bei den Delta Sigma."
Verwundert sieht er mich an und bevor er gleich fragen kann, wofür das steht, ergänze ich: „Delta Sigma steht für Dumme Spießer. Sie haben extra auf dich gewartet."

Wieder gehe ich an ihm vorbei und grinse vor mich hin, während ich mich auf den Weg zum Wohnheim mache.

Abends kommt Andy nach Hause und trägt allen Ernstes einen Schal mit Verbindungssymbolen.
„Du hast dich wirklich irgendwo angemeldet?", frage ich genervt.
„Jup, und die Jungs haben gesagt, ich kann dich auch zu den Partys mitnehmen", erklärt Andy stolz und lässt sich auf sein Bett fallen.
„Andy", seufze ich. „Das sind doch alles solche Sportstipendianten. Was soll ich denn da?"
„Dich betrinken, mal die Sau rauslassen. Hallo? Die müssen doch auch eine Schwulenquote haben."
Ich lache abfällig. „Danke, Alter. Sehr nett, dass du dich darum kümmern willst, aber ich verzichte. Ich will einfach nur meine Ruhe haben, okay?"

•••

Die folgenden Wochen vergehen wie im Flug. Andy geht brav zu seinen Kunst- und Sportwissenschaftenvorlesungen, spielt fleißig Fußball und hängt bei seinen Verbindungsbrüdern rum. Mir ist das ganz recht, denn ich bin damit beschäftigt, die Bücher zu lesen, die Mr. Weatherhead uns für das Semester aufgegeben hat oder meine neu erlernten Programmiertechniken auf meinem Laptop anzuwenden.

In meinen Literaturvorlesungen sitze ich nun meist am Rand, zum Glück hat sich das Blondchen von meiner ersten Stunde komplett von mir distanziert und sich an einen anderen Typen rangeschmissen, der mit großer Freude seine Notizen mit ihr teilt. So wie ihre Hand auf seinem Oberschenkel liegt, gehe ich davon aus, dass er auch Körperflüssigkeiten mit ihr teilt und ich sehe angeekelt wieder weg.

Die Tür öffnet sich und heute kommt nicht Professor Weatherhead in den Saal, sondern ein junger Mann mit schwarzen Haaren. Er geht direkt an das Whiteboard und schreibt schwungvoll seinen Namen daran. ,Professor Holt' steht dort und als er sich zu den Studenten dreht, schlucke ich, denn seine auffällig geschminkten Augen kommen mir erstaunlich bekannt vor. Fuck!

„Guten Morgen", sagt er streng. „Mein Name ist Marshall Holt und ich werde ab sofort diesen Kurs übernehmen."
„Was ist mit Professor Weatherhead?", ruft jemand einfach so laut nach vorn.
„Ich ziehe es vor, nicht unterbrochen zu werden", erklärt Professor Holt mit einem wütenden Blick in die Richtung, aus der die Frage kam. „Professor Weatherheads Gesundheitszustand hat sich überraschend verschlechtert, so dass er für den Rest des Semesters nicht in der Lage sein wird zu unterrichten. Darum wurde mir diese Aufgabe übertragen."
„Der ist doch viel zu jung", höre ich ein Mädchen weiter vorne flüstern und Professor Holts böser Blick wendet sich nun in ihre Richtung.
„Ich sehe das als Kompliment, Miss", sagt er deutlich. „Aber ich habe mein Studium als jüngster Student dieses Bundesstaates bereits vor drei Jahren beendet und bin durchaus im Stande, diese Profession auszuführen. Gern können Sie schriftlich einen Nachweis meiner Qualifikation anfordern."

Ich rolle mit den Augen. Kann er noch spießiger sein?
„Ich möchte Sie nun darauf hinweisen, dass mein Curriculum für dieses Jahr nicht so ... lax wie das von Professor Weatherhead sein wird", fährt Professor Holt fort.
Ich hebe meine Hand und warte, bis er mich sieht und mich zum Sprechen auffordert.
„Ja bitte?", fragt er mich und ich bemerke, dass seine Augen sich leicht weiten, als er mich sieht. Hat er mich etwa erkannt? Aber das ist Wochen her!
„Könnten Sie das näher ausführen?", frage ich so spießig wie möglich.
„Nun", beginnt er. „Wir sind hier nicht bei Delta Sigma, es werden also zusätzlich zu den Lektüren, die Sie von Professor Weatherhead bekommen haben, weitere fünf Werke zu bearbeiten sein, zu denen Sie entsprechende Interpretationen über mindestens dreitausend Wörter abzugeben haben werden."

„Das ist aber voll viel!", meckert das Blondchen und nimmt vor Entsetzen sogar die Hand vom Oberschenkel ihres Sitznachbarn.
„Nun", tadelt Professor Holt sie. „Dann werden Sie wohl mehr arbeiten und weniger die Anatomie Ihres Sitznachbarn untersuchen müssen, Miss."
Ein weiterer Student hebt seine Hand und Professor Holt fordert ihn auf zu sprechen.
„Was ist Delta Sigma?", lautet die Frage.

Ich spüre wie mein Magen eine Etage tiefer rutscht, als Professor Holt einen zynischen Blick in meine Richtung wirft.
„Ich denke, diese Frage wird Ihnen Ihr Mitstudent", seine Hand weist in meine Richtung, „gern beantworten. Guten Tag."
Er macht auf dem Absatz kehrt und verlässt mit langen, eleganten Schritten den Vorlesungssaal.

Ich sitze mit hochrotem Kopf in meinem Stuhl und versuche, den etwa fünfzig Augenpaaren auszuweichen, die allesamt auf mich gerichtet sind.

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now