Lektion #8

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Professor Holt lacht neben mir und ich stelle fest, dass er so unbeschwert plötzlich gar nicht mehr so spießig wirkt.
„Sie finden es lächerlich", beschwere ich mich.
Er schüttelt vehement den Kopf. „Nein, ganz und gar nicht. Ich verspürte exakt den gleichen Wunsch, als das Kapitel las. Es ist schon fast schade, dass Sie es nicht einfach getan haben."
Ich zucke mit den Schultern. „Es war schon dunkel und ich wusste nicht, wo wohl der nächste Laubhaufen zu finden ist."
Professor Holt nickt nur lächelnd und sagt: „Ich bin gespannt, was Sie zu den nächsten Kapiteln sagen", erklärt er.

•••

Vier Tage später lese ich folglich das fünfte Kapitel mit dem Titel ‚Basorexie' und zögere am Ende. Ich weiß, Professor Holt hat mich angewiesen, nur ein Kapitel pro Tag zu lesen, aber es ist gerade so spannend.

Die letzten Tage liefen alle nach einem ähnlichen Schema ab. Ich ging zu meinen Vorlesungen, programmierte nachmittags fleißig und stand jeden Tag pünktlich vor Professor Holts Büro. Meist gingen wir spazieren und besprachen dabei die Kapitel. Es fällt mir noch immer schwer, meine Gedanken und Gefühle in Bezug auf die Geschichte zu formulieren, aber Professor Holt gibt mir nie das Gefühl, mit meinen Eindrücken falsch zu liegen.

Inzwischen sehe ich ihn auch nicht mehr als so spießigen Spießer. Er hat eine recht extravagante Art, nicht nur äußerlich, sondern auch in seiner Ausdrucksweise, aber es scheint wohl einfach daher zu kommen, dass er seine Worte stets mit Bedacht wählt. Bis vor ein paar Wochen hätte ich das selbst nicht geglaubt, aber ich mag den Professor mittlerweile und ich glaube, er mag mich auch, sonst würde er wohl kaum freiwillig jeden Nachmittag mit mir verbringen.

Ich nehme mein Handy und schreibe ihm eine E-Mail, denn eine andere Kontaktmöglichkeit habe ich nicht.

Von: l.patterson@nyustudents.com
An: m.holt@nyuprofessors.com
Betreff: Nur 1 Kapitel

Sehr geehrter Professor Holt,

ich weiß, Sie haben mich angewiesen, jeweils nur 1 Kapitel pro Tag zu lesen. Ich wollte dennoch fragen, ob ich heute vielleicht 2 Kapitel lesen darf, da es gerade so spannend ist.

Es grüßt Sie herzlichst

Lou Patterson

Ich habe sogar an eine sehr freundliche Abschlussgrußformel gedacht, weil ich weiß, dass ihm das wichtig ist. Nach wenigen Minuten piept mein Handy mit einer Antwort von ihm. Der Mann hat echt nichts zu tun, denke ich still.

Von: m.holt@nyuprofessors.com
An: l.patterson@nyustudents.com
Betreff: AW: Nur EIN Kapitel

Sehr geehrter Mr. Patterson,

es freut mich sehr, dass Sie so höflich nachfragen und dass Sie offenbar Freude an dem Buch finden. Ich bin noch im Büro und würde ausnahmsweise die Besprechung schon heute durchführen, damit Sie die Möglichkeit haben, noch ein zweites Kapitel lesen zu können.

Herzlichst,

Ihr

Marshall Holt

Post Scriptum: Zahlen in einem Text auszuschreiben ermöglicht dem Leser ein flüssigeres Leseerlebnis.

Ich sehe auf meine Uhr. Es ist nach neun Uhr abends und er ist noch im Büro? Kurz überlege ich, ob ich wirklich noch hingehen sollte. Er will doch sicherlich auch irgendwann nach Hause und ich halte ihn mit meiner Ungeduld nur auf. Aber wenn er jetzt wartet, dass ich vorbeikomme, halte ich ihn genauso auf.

Ich springe auf und ziehe meine Jacke über.
„Wo willst du denn hin?", fragt mich Andy, der mit Kopfhörern auf seinem Bett liegt. Ich hatte ihn beim Lesen vollkommen ausgeblendet.
„Nochmal zu Professor Holt."
„Es ist nach neun, spinnt der Typ, dich jetzt nochmal zu sich zu zitieren?", meckert mein bester Freund.
„Nein, ich hab ihn gefragt", stelle ich klar und schlüpfe in meine Schuhe.
„Wieso?"
„Weil ich gern noch ein Kapitel lesen will."
„Wieso?"
Ich lache. „Weil es gerade so spannend ist und ich nur ein Kapitel pro Tag lesen darf."

Andy macht ein abfälliges Geräusch. „Nicht, dass mir sowas passieren könnte, aber was will er machen, wenn du doch einfach noch eins liest?"
Ich stocke kurz. Ich habe keine Antwort auf Andys Frage, aber es fühlt sich nicht richtig an.
„Keine Ahnung, aber ich will ihn nicht hintergehen. Er wird sich was dabei gedacht haben", antworte ich ehrlich.
„Alter, er ist nur dein Lehrer, nicht deine Mutter oder dein Freund", lacht Andy und setzt sich die Kopfhörer auf.

Ich greife nach meinem Buch und mache mich auf den Weg zu Professor Holts Büro. Andy hat auf eine Art schon Recht. Marshall Holt ist nur mein Lehrer und nicht mein Freund. Ich kann nicht erklären warum, aber der Gedanke stört mich plötzlich. Ich weiß nicht viel über ihn. Offenbar mag er schöne Worte, denn er hat mir dieses Buch gegeben. Und er hat ein großes Herz, dass er diese ehrenamtlichen Kurse gibt. Er spricht gern über Empfindungen.

Ich habe in der letzten Woche den größten Teil meiner Zeit mit ihm verbracht und weiß doch so gut wie nichts über ihn und das stört mich auf einmal ungemein.
Verwirrt klopfe ich an seine Tür und gehe hindurch, nachdem ich das übliche „Herein" vernehme.
Professor Holt sitzt wieder in seinem Sessel, ein Buch auf seinem Schoß, nur eine kleine Leselampe erhellt den Raum.

Er sieht zu mir auf und ich platze mit dem ersten Gedanken heraus, der mir in den Sinn kommt:
„Können wir uns nicht duzen?"
Marshall Holt hebt verwundert seine Augenbrauen, doch sein Gesicht wird sofort wieder ernst.
„Setzen Sie sich, Mr. Patterson", sagt er und deutet zum Sofa, wo ich normalerweise sitze.
Verlegen nehme ich Platz und sehe ihn an.
„Ich würde es vorziehen, wenn wir uns weiterhin mit Sie ansprechen", erklärt er ruhig und ich spüre einen Stich der Enttäuschung in mir.

Ich gebe mir Mühe, ein neutrales Gesicht zu machen und fummle an dem Buch in meiner Hand herum. „Natürlich, bitte entschuldigen Sie, dass ich so direkt war", murmle ich.
„Ich freue mich, dass Sie offenbar gern Zeit mit mir verbringen und das beruht auf Gegenseitigkeit", sagt er freundlich. Beim letzten Teil seines Satzes habe ich unwillkürlich ein kleines Kribbeln im Bauch.
„Aber", fährt er fort. „Ich möchte den respektvollen Umgang gern beibehalten und ich glaube, eine formelle Anrede sorgt für die dafür notwendige Distanz."

Verwirrt runzle ich die Stirn. Distanz?
„Um es einfacher auszudrücken: es fällt im Allgemeinen leichter ‚Du Arschloch' zu sagen als ‚Sie Arschloch'", lacht er. Ich schaue ihn verblüfft an.
„Aber ich finde gar nicht, dass Sie ein Arschloch sind", widerspreche ich. Er lächelt mich an und antwortet: „Das freut mich sehr. Aber vor nicht allzu langer Zeit unterstellten Sie mir noch den metaphorischen Stock im Arsch."

Meine Wangen werden rot und ich sehe verlegen auf meine langen Finger. „Da kannte ich Sie ja auch noch nicht", flüstere ich.
„Das ist richtig, aber dennoch halte ich mit allen Schülern eine formelle Anrede, um nicht den Eindruck einer zu freundschaftlichen Beziehung zu erwecken."
Ich nicke und schlucke den Kloß in meinem Hals herunter.

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