Lektion #1

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Okay, denke ich still bei mir. Dann geht es jetzt wohl los. Ich atme tief durch und betrete den Vorlesungssaal. Die unzähligen Sitze sind schon gut zu Dreiviertel mit eifrigen, übermotivierten Studenten gefüllt und ich fühle mich sofort unwohl. Ich bin nicht gern unter vielen Menschen. Wenn man sich jedoch dazu entschließt - wie so viele andere - Literatur zu studieren, bleibt Kontakt zu anderen Menschen wohl nicht aus. Ich bin froh, dass Literatur nur mein Nebenfach ist und ich mich im Hauptstudium für Informatik entschieden habe. In meiner Informatikvorlesung waren nicht einmal halb so viele Leute und auch der Saal, in dem die Vorlesung stattfand, war bedeutend kleiner.

Ich schleiche durch die Stuhlreihen und setze mich auf einen freien Platz neben ein unscheinbares, blondes Mädchen in meinem Alter. Haha, hier sind fast alle in meinem Alter, wir sind gerade mit der Highschool fertig und beginnen unser Studium.
„Hi", spricht sie mich an.
Oje, Unterhaltung? Oh, bitte nicht.
„Hallo", sage ich knapp und suche mein Notizbuch aus meinem Rucksack.
„Auch dein erster Tag?", fragt sie. Offenbar scheint sie den Ich-hab-keine-Lust-mich-mit-dir-zu-unterhalten-Wink übersehen zu haben.
„Ja", sage ich und blicke stur nach vorn, obwohl dort überhaupt nichts geschieht. „Geht wohl allen so."
Sie lacht gekünstelt und ich erwäge kurz, mir schnell einen anderen Platz zu suchen, so lange ich noch die Chance dazu habe.
„Du bist voll witzig", kichert sie.
Ich hebe nur eine Augenbraue und nicke. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie ihre Stirn kraus zieht und offenbar versucht, eine Möglichkeit zu finden, das Gespräch, was de facto noch gar nicht stattfindet, am Laufen zu halten.

Glücklicherweise werde ich gerettet, denn ein älterer Mann betritt den Saal und scheint den Unterricht beginnen zu wollen.
„Guten Morgen", begrüßt er die Studenten freundlich und viele murmeln ein „Guten Morgen" zurück. Der Mann schreibt mit einem Marker an das riesige Whiteboard und ich lese den Namen ‚Prof. Weatherhead'.

„Mein Name ist Professor Weatherhead", beginnt er mit lauter, kräftiger Stimme. „Bitte sparen Sie sich die Mühe mit lustigen Spitznamen wie Wetterkopf, Gewitterschädel, Sturmkopf oder ähnliches. Ich bin zu alt für solche Kindereien und Sie sollten es auch sein."
Ein allgemeines Kichern geht durch die Runde und auch ich muss grinsen. Ich mag den alten Mann jetzt schon.

Er geht mit uns die Punkte durch, die im kommenden Semester behandelt werden, welche Lektüre Pflicht für uns sein wird und welche Arbeiten auf uns zukommen werden. Ich schreibe eifrig mit und bin froh, dass ich einen Großteil der Lektüre bereits während meiner Highschoolzeit gelesen habe. Ich lese gern, darum habe ich dieses Fach zusätzlich gewählt.

Nachdem Professor Weatherhead die Vorlesung beendet hat, dreht sich das Blondchen neben mir wieder in meine Richtung und flüstert: „Hey, hast du zufällig mitgeschrieben?" Ich mustere sie verblüfft, denn ich frage mich ernsthaft, wie sie mit einem IQ von zwölf überhaupt ihren Highschoolabschluss schaffen konnte. „Ja, ich hatte einen Stift in der Hand und in meinem Buch stehen jetzt Buchstaben", erwidere ich sarkastisch.
Wieder lacht sie gekünstelt und legt mir dabei ihre Hand auf den Arm. Igitt! Schnell ziehe ich meinen Arm weg und sehe sie fragend an.

„Darf ich bei dir abschreiben?", fragt sie nun und klimpert mit ihren unechten Wimpern. Ich packe mein Notizheft in meinen Rucksack zurück und antworte nur: „Nein."
Sie schnappt entsetzt nach Luft und fragt: „Was? Aber warum nicht?"
Ich stehe auf und werfe mir meinen Rucksack über die Schulter. „Weil du selbst die Chance hattest, mitzuschreiben."
Damit drehe ich mich von ihrem verblüfften Gesichtsausdruck weg und verlasse den Vorlesungssaal. In der nächsten Vorlesung werde ich mich garantiert nicht neben sie setzen, nehme ich mir vor.

Auf dem Weg zum Wohnheim ziehe ich mein Handy aus meiner Tasche und schreibe meinem besten Freund und Mitbewohner eine Nachricht.

Andy

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