Lektion #26

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Meine Uhr zeigt sieben Minuten nach fünf an, als ich die Treppe zu Marshalls Wohnung nach oben schleiche. Ich habe peinlichst genau darauf geachtet, dass mich niemand sieht, aber es ist der Freitag vor dem letzten Ferienwochenende und die meisten Studenten werden erst morgen oder übermorgen zurückkehren.
Ich hatte Marshall gewarnt, dass ich vielleicht so früh aufwachen würde und vielleicht habe ich mir auch einen Wecker gestellt. Vielleicht heißt in diesem Fall ja.

Nach seinem spontanen Besuch gestern Abend konnte ich lange nicht einschlafen. Ich habe darüber nachgedacht, wie wütend ich auf ihn war. Und darüber, wie wütend er auf mich war. Und über das, was er dann mit mir gemacht hat. Das war fuckheiß. Ich glaube, das Heißeste daran war tatsächlich die Art, wie er gesprochen hat.

Es war mir auch bei unseren vorherigen.. Treffen schon aufgefallen, aber gestern war es besonders deutlich. Der extreme Gegensatz zwischen seinen stets mit Bedacht gewählten Worten, wenn man sich normal mit ihm unterhält und dem, was er von sich gibt, wenn er erregt ist. Ich muss zugeben, dass ich beides sehr mag.

Ein sichtlich verschlafener Marshall öffnet mir die Tür, nachdem ich etwas schneller und lauter geklopft habe als ursprünglich beabsichtigt. Vielleicht bin ich ein wenig aufgeregt.
„Guten Morgen, Louis", murmelt er, seine Stimme noch ganz belegt. Er sieht zu putzig aus mit seinen zur Seite abstehenden Haaren und der Knautschfalte an seiner Wange. Bis vor ein paar Monaten hätte ich noch nicht geglaubt, dass ich von meinem Literaturprofessor einmal denke, dass er putzig aussieht.

Ohne zu antworten trete ich vor, nehme sein Gesicht in beide Hände und küsse zärtlich seine Lippen. Marshall lächelt an meinem Mund und legt seine warmen Hände an meine kalten Wangen.
„Wie spät ist es?", will er wissen.
„Kurz nach fünf", gebe ich zu. „Zu früh?"
Marshall schüttelt seinen Kopf. „Nein, ich freue mich, dass du da bist. Aber wollen wir noch ein paar Stunden schlafen?"
„Das klingt toll", stimme ich zu und ziehe meinen Mantel aus.

Zehn Minuten später liege ich nur in meiner Boxershorts in Marshalls warmem Bett. Er zieht mich eng an sich und ich lege meinen Kopf auf seine Brust. Instinktiv schlinge ich meinen Arm um ihn und er schreit überrascht auf: „Deine Hände sind eiskalt!"
Ich kichere leise. „Du solltest mal meine Füße spüren", witzele ich und ernte einen bösen Blick.
„Wag es nicht, Louis."
„Okay", lache ich. „Merke: Professor Holt mag keine Eisfüße."
„Korrektur: niemand mag Eisfüße", murmelt er zurück und schiebt seine Finger in meine Haare.

Ich seufze wohlig, denn das Gefühl, wie er seine Hände durch meine Strähnen streicheln lässt, ist ungemein angenehm und beruhigend. Ich sauge seinen warmen Duft in mich ein und drifte in einen sanften Dämmerschlaf ab.

•••

Als ich einige Zeit später erwache, liege ich allein in Marshalls Bett. Ein Blick auf den Radiowecker auf seinem Nachttisch verrät mir, dass es kurz nach halb zehn ist. Ich reibe mir verschlafen die Augen, als die Tür aufgeht und ein lächelnder Marshall mit zwei Tassen Kaffee hereinkommt.
„Hey", mache ich und nehme ihm eine der dampfenden Tassen ab. Marshall kriecht schnell wieder zu mir unter die warme Decke und ich zucke zusammen.
„Jetzt hast du aber Eisfüße", beschwere ich mich. Er lacht leise und verteidigt sich mit: „Dafür habe ich dir Kaffee gemacht."

„Dann darfst du deine Eisfüße auch an mir wärmen", biete ich an und erschaudere, als Marshall genau das tut und seine kalten Füße unter meine Waden schiebt.
„Ich habe jetzt noch kein Frühstück gemacht", beichtet er und trinkt vorsichtig aus seiner Tasse. Ich grinse ihn an und streiche über seine Hand. „Das kann ich ja gleich tun", schlage ich vor.
„Darauf hatte ich spekuliert, muss ich ehrlicherweise zugeben."
„Ich dachte mir fast, dass du darauf spekuliert hast. Ich hoffe, du hast jetzt aber noch keine Kekse genascht, ich mache nämlich grandiose Pancakes."

Marshall legt sich theatralisch eine Hand auf die Brust. „Natürlich habe ich noch keine Kekse genascht", entrüstet er sich.
Ich beäuge ihn skeptisch. „Sind die Kekse alle, Marshall?", frage ich.
Er scheint seinen Kaffee sehr interessant zu finden, denn er starrt mit roten Wangen in seine Tasse. „Kann sein", murmelt er verlegen.
Ich lache laut auf und gebe ihm einen kleinen Schmatzer auf eben jene Wange.
„Dann fange ich mal an, bevor du mir verhungerst."

Ich stehe auf und sehe mich suchend nach meinen Sachen um.
„Ich habe sie ins Badezimmer gelegt, aber du darfst auch gern so bleiben", erklärt Marshall und mir fällt auf, dass er mich interessiert betrachtet.
„Das ist aber ganz schön kalt", gebe ich zu Bedenken.
„Du kannst meinen Morgenmantel haben", bietet er an.
Ich verziehe etwas verstört mein Gesicht. „Nein", mache ich, gehe ins Bad und ziehe mir einfach nur meinen Pullover über. So wird es auch gehen.

„Was hast du gegen meinen Morgenmantel?", ruft Marshall mir hinterher.
Ich lache herzlich, während ich in die Küche spaziere und sehe, dass dort immer noch die Einkaufstüten von gestern stehen. Er hat nicht mal ausgepackt?
Mit Erleichterung stelle ich fest, dass er zumindest den Käse und die Eier in den Kühlschrank geräumt hat, was dessen Inhalt um zweihundert Prozent erhöht hat.

Ich krame in Marshalls Küche herum, rühre den Teig an und bereite einen großen Teller mit allen möglichen Leckereien vor.
„Hast du ein Tablett?", rufe ich in Richtung Schlafzimmer, während ich die Pancakes in Marshalls neuem Topf brate.
Ja, in seinem neuen Topf.
Er hat auch keine Pfanne und ich habe gestern keine gekauft. Aber das Öl wird trotzdem heiß und dann sind es eben Potcakes.

„Leider nicht", säuselt Marshall hinter mir und ich drehe mich erschrocken um. Er lehnt lässig an der Arbeitsfläche, nur in Boxershorts und einem schwarzen Morgenmantel aus Seide. Ich muss aufpassen, nicht zu sabbern, so gut sieht er aus.
„Du starrst, Louis", bemerkt er.
Verlegen beiße ich mir auf die Unterlippe. „Dann seh nicht so gut aus", kontere ich.
„Sieh!", korrigiert er mich und ich rolle instinktiv mit den Augen. Lässt er jetzt tatsächlich den Lehrer raushängen?

Marshall stellt sich ganz dicht hinter mich und lässt seine Hände unter meinen Pullover wandern.
„Hast du ein Glück, dass du mir gerade Essen zubereitest, da will ich das Augenrollen einmal tolerieren", droht er leise. Sofort überkommt mich eine Gänsehaut. Ich räuspere mich kurz und murmle dann: „Naja, ich kann es ja nach dem Frühstück nochmal machen."

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now