Lektion #41

4.9K 410 39
                                    

Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe und mein Knie wippt hastig auf und ab. Schließlich springe ich auf und gehe zur Tür, das kann nicht bis nach der Vorlesung warten. Ich warte vor der Tür und trete aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Immer mehr Studenten strömen an mir vorbei in den Saal und betrachten mich skeptisch. Vermutlich sehe ich aus, als müsste ich dringend aufs Klo und so fühle ich mich auch. Mir ist übel und mein Herz klopft so wild, dass ich befürchte, gleich viel zu laut zu reden, weil ich nichts anderes hören kann.

Von Weitem sehe ich Marshall den Gang entlangkommen. Er sieht wie immer so gut aus, dass meine Brust sich sofort schmerzhaft zusammenzieht. Um die Augen wirkt er ein wenig müde und natürlich frage ich mich unwillkürlich, ob seine hübsche Freundin noch einmal zurückgekommen ist und seine Nacht darum nur kurz war. Als er näher kommt, erblickt er mich und sieht sofort distanziert an mir vorbei. Ich gehe schnell auf ihn zu und ignoriere die anderen Studenten, die mir entgegen kommen.

„Marshall, ich muss mit dir reden", murmle ich eilig.
„Bitte vereinbaren Sie einen Termin zu den üblichen Sprechzeiten, Mr. Patterson", antwortet er kühl, ohne mich auch nur anzusehen. „So wie alle anderen Studenten auch."
„Aber es ist wichtig", dränge ich.
Er rollt theatralisch mit den Augen und geht weiter schnellen Schrittes in den Vorlesungssaal, sodass ich hilflos hinter ihm her stolpere. „Das ist es immer."

Er knallt seine Unterlagen auf das Pult und klatscht einmal laut in die Hände.
„Ich hoffe, Sie haben alle das Buch gelesen, für das die Deadline bereits vergangene Woche war", ruft er lauthals und ich verziehe mich zähneknirschend an meinen Platz.
Die gesamte Vorlesung würdigt Marshall mich keines Blickes und ich koche innerlich vor Wut.

Wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will, weil er jetzt eine neue Freundin hat und es nicht einmal für nötig hielt, mir das persönlich zu sagen, ist das eine Sache. Aber nicht einmal die Dringlichkeit meines Anliegens zu erkennen und mich so eiskalt zu ignorieren ...

Als die Vorlesung vorbei ist, springe ich sofort auf und renne schon fast nach vorn zu ihm. Er klemmt sich seine Unterlagen unter den Arm und ich baue mich vor ihm auf.
„Es ist wirklich sehr wichtig, Professor Holt", sage ich eindringlich. Wieder weichen seine Augen meinen aus und er sieht geschäftig auf sein Handy.
Sein Handy? Seit wann hat er ein Handy?

„Vereinbaren Sie einen Termin, Mr. Patterson", sagt er nur und drängt sich an mir vorbei. Ich stehe wie erstarrt da und blicke ihm nach. Es ist, als würde ich ihn überhaupt nicht kennen. Als wäre der Marshall, mit dem ich vor einer Woche noch gelacht und geknutscht habe, durch eine andere Person ersetzt worden.

Im Wohnheim schreibe ich ihm eine offizielle E-Mail, denn die wird er ja kaum gelöscht haben.

Von: l.patterson@nyustudents.com
An: m.holt@nyuprofessors.com
Betreff: Bitte um einen Termin

Sehr geehrter Professor Holt,

hiermit möchte ich gern offiziell um einen Gesprächstermin bei Ihnen bitten. Bitte teilen Sie mir den frühstmöglichen Zeitraum mit, zu dem Sie mich empfangen können, da das zu besprechende Thema höchste Dringlichkeit hat.

Mit freundlichen Grüßen

Lou Patterson

Ich sitze da, starre auf mein Handy und warte. Ich warte und warte und nichts passiert. Er hat doch jetzt ein Handy, verdammt! Warum antwortet er nicht?

Irgendwann kommt Andy zurück und sieht mich fragend an. „Was tust du da?", will er wissen.
„Ich warte auf eine E-Mail. Ist vielleicht das W-LAN kaputt?", überlege ich laut. Inzwischen sind fast zwei Stunden vergangen und ich habe noch immer keine Antwort von Marshall.

Andy schreibt mir einen Text.

Andy

Wer das liest, ist doof.

„Haha", antworte ich sarkastisch und werfe mein Kissen nach ihm. Das Internet funktioniert also.

•••

Am nächsten Morgen erwache ich mit meinem Handy in der Hand. Ich schaue nach meinen E-Mails, aber bis auf die üblichen Singles-in-deiner-Nähe-Spam-Mails habe ich nichts bekommen. Frustriert gehe ich ins Gemeinschaftsbad, um zu duschen. Dann werde ich Marshall heute wohl noch einmal abfangen müssen, um meinem Anliegen Nachdruck zu verleihen.

Als ich zurückkomme, habe ich eine E-Mail und lasse fast schon mein Smartphone fallen, weil ich die App so schnell öffnen will.

Von: m.holt@nyuprofessors.com
An: l.patterson@nyustudents.com
Betreff: Termin

Sehr geehrter Mr. Patterson,

ich kann Ihnen noch einen Gesprächstermin am Mittwoch nächster Woche, 09:30 Uhr, anbieten. Alternativ um 16:15 Uhr am Donnerstag zwei Wochen danach. Bitte teilen Sie mir mit, welchen der beiden Termine Sie in Anspruch nehmen möchten.

Freundlichst,

Marshall Holt

Mein Herz rast, in meiner Brust brennt ein heißer Klumpen und meine Hand zittert. Ich bin wütend und verletzt und enttäuscht und alles gleichzeitig.
Ich weiß genau, dass er das mit Absicht macht und ich fühle mich wie der letzte Dreck. Schnell tippe ich eine Antwort.

Von: l.patterson@nyustudents.com
An: m.holt@nyuprofessors.com
Betreff: AW: Termin

Es ist wirklich WICHTIG, Marshall!!

Freundlicherweise lässt er mich dieses Mal nicht einen halben Tag schmoren, seine Antwort kommt innerhalb von drei Minuten.

Von: m.holt@nyuprofessors.com
An: l.patterson@nyustudents.com
Betreff: Der Ton

Sehr geehrter Mr. Patterson,

ich meine, mich zu erinnern, dass ich Sie bereits auf Ihren Ton mir gegenüber hingewiesen habe. Weder werde ich es tolerieren, dass Sie mich in E-Mails mit Vornamen ansprechen, noch dass Sie mich metaphorisch anschreien.

Die Terminvorschläge sind somit obsolet, wenden Sie sich mit Ihrem Anliegen an den Spartenleiter.

Freundlichst,

Marshall Holt

Ich starre wie betäubt auf mein Telefon und dann schleudere ich es mit einem Schrei, der vermutlich das gesamte Wohnheim weckt, gegen die Wand über meinem Bett. Kleine Splitter fliegen durch den Raum und mein Handy fällt mit schwarzem Bildschirm auf meine Bettdecke.

Andy kommt entsetzt ins Zimmer gestürmt und schreit panisch: „Was ist los? Was ist passiert?"
Ich sacke langsam auf meine Knie und vergrabe mein Gesicht hinter meinen Händen.
„Lou!", ruft Andy besorgt und eilt zu mir. „Was ist los, Mann?"

Doch ich kann nicht antworten. Ich schluchze hemmungslos, während mein bester Freund ratlos und verzweifelt seine Arme um mich legt.

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now