Lektion #12

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„Warum sind Sie nicht über die Ferien weggefahren wie die meisten Studenten?", fragt mich Professor Holt. Noch immer sehe ich ihn nicht an und schließe kurz meine Augen.
„Es ist nicht notwendig, dass Sie versuchen, eine Unterhaltung mit mir zu führen", antworte ich distanziert, obwohl alles in mir sich dagegen sträubt.

Ich würde mich unglaublich gern mit ihm unterhalten. Ich würde gern wissen, warum er trotz Ferien hier ist. Warum er noch nie Steine über das Wasser hüpfen lassen hat.

„Notwendig vielleicht nicht, aber dennoch interessiert es mich", sagt der Professor ruhig. Ich beiße mir auf die Unterlippe und atme tief durch. „Bitte nicht", sage ich leise. „Ich weiß, Sie wollen nur nett sein, aber ich möchte das nicht. Also hören Sie bitte auf damit."

„Mr. Patterson", sagt er leise und legt seine Hand auf meine Schulter. „Es war nicht meine Absicht, Sie zu verletzen."
„Das weiß ich!", schreie ich und drehe mich abrupt zu ihm um. „Aber das ändert nichts daran, dass ich trotzdem ständig an Sie denken muss!"

Professor Holt starrt mich mit großen Augen an, sein Mund ist vor Erstaunen zu einem überraschten ‚Oh!' geformt.
„Ich weiß, es war richtig von Ihnen, meinen erbärmlichen Annäherungsversuch zurückzuweisen", presse ich hervor. „Ich weiß, es ist vollkommen absurd zu glauben, dass Sie auch ständig an mich denken. Aber bitte lassen Sie mich einfach in Ruhe, bis ich das auch wirklich glaube."

Professor Holt legt seine weiche, kühle Hand an meine Wange und für einen winzigen Moment sind die Kolibris – oder Schmetterlinge oder was auch immer – in meinem Bauch wieder da und ich halte gebannt die Luft an. Ich sehe wie seine Augen meine Lippen fixieren und genau dieser Blick ist es, der mich tief in mir drin so sicher sein lässt, dass ich ihm nicht egal bin. Dass er auch etwas für mich empfindet.

Ich beuge mich etwas vor und kann seinen warmen Atem auf meinem Gesicht spüren. Seine Hand rutscht von meiner Wange in die Haare in meinem Nacken und ich lege unwillkürlich eine Hand auf seine Hüfte. Seine kalte Nasenspitze berührt meine und ich neige meinen Kopf ganz leicht nach rechts.

„Es tut mir leid", murmelt er, macht zwei Schritte nach hinten und stolpert fast dabei. Gerade noch rechtzeitig halte ich ihn an seinem Arm fest, damit er nicht fällt.
„Ja", flüstere ich mit zittriger Stimme. „Mir auch." Schnell lasse ich ihn wieder los und verstecke meine Hände in meinen Jackentaschen.

„Es geht nicht", wispert er heiser. „Es ist nicht, dass ich nicht will, aber ... ich bin dein Lehrer, Louis. Es ist auf jede erdenkliche Art falsch."
Mir stockt der Atem. Es ist das erste Mal, dass er mich mit meinem Vornamen anspricht und ich liebe es. Ich starre ihn an und er starrt zurück.

„Warum hast du ein leeres Blatt abgegeben?", fragt er mich aus dem Nichts heraus und der plötzliche Themenwechsel löst ein regelrechtes Schwindelgefühl bei mir aus.
„Ich ... ich konnte mich an nichts aus dem Buch erinnern", antworte ich verwirrt.
„Aber du hast es gelesen?"
„Ja, schon vor Wochen. Warum duzt du mich plötzlich?", frage ich ihn und bemerke, dass ich ihn selbst duze.

„Ich würde dir anbieten, die Arbeit zu wiederholen", sagt er, ohne auf meine Frage einzugehen.
„Unter welchen Bedingungen?"
„Du liest das andere Buch zu Ende und wir besprechen es wie bisher."
Verwirrt runzele ich die Stirn. „Warum tust du das?"
Er zuckt mit den Schultern. „Ich sehe viel Potenzial in dir. Auch, wenn Literatur nur dein Nebenfach ist. Und ich möchte einfach, dass du das auch erkennst."

Ich kann ihm nicht antworten. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll oder was ich will.
„Überlege es dir, Louis", sagt er ruhig. „Ich bin die ganzen Ferien da und habe die Rezensionen noch nicht korrigiert."

•••

Inzwischen ist es draußen wieder dunkel und noch immer überlege ich. Eigentlich ist es unnötig, denn ich weiß, was ich will. Ich will die Gelegenheit nutzen und Professor Holt jeden Tag sehen, besonders jetzt, wo ich weiß, dass ich ihm auch nicht egal bin.
Doch er hat mir unmissverständlich klargemacht, dass es zwischen uns nicht mehr als ein Lehrer-Schüler-Verhältnis geben wird.
Will ich das? Mich selbst täglich foltern, indem ich ihn sehe?

Vielleicht wird es irgendwann besser. Irgendwann gewöhne ich mich an ihn und das Interesse wird nachlassen. Es klingt wie eine Selbstlüge, aber wenn ich es mir oft genug sage, ist es vielleicht irgendwann wirklich so.

Es ist bereits nach zwanzig Uhr, als ich über den Campus laufe. Mir ist bewusst, dass Professor Holts Sprechzeiten längst vorbei sind, aber ich sehe, dass in seinem Büro noch Licht brennt. Ich schlucke den Kloß in meinem Hals herunter und gehe langsam dorthin.

Ich klopfe fest an die Tür und anders als sonst öffnet Professor Holt sie heute, anstatt nur „Herein" zu rufen.
Er sieht mich überrascht an und ich sage schnell: „Okay. Ich mache es. Aber du nennst mich weiter Louis."
Er nickt und hält mir die Tür auf, damit ich eintreten kann. „Ich befürchte, es ist keine gute Idee, diese Regel zu brechen, aber ich gehe auf diese Bedingung ein", sagt er ruhig. „Ich bin Marshall."

Ich muss unwillkürlich grinsen.
„Findest du meinen Vornamen so amüsant, Louis?", fragt er und klingt dabei fast etwas beleidigt.
Ich schüttele meinen Kopf. „Nein", grinse ich. „Aber du tust so, als würde ich ihn zum ersten Mal hören. Dabei steht er immer unter deiner E-Mail."
Marshall lächelt und ich ertappe mich dabei, dass ich zum ersten Mal von ihm als Marshall und nicht als Professor Holt denke.
„Du hast recht, aber wie bietet man sonst jemandem das Du an?", fragt er.

Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung, Marshall. Aber ich denke, wir haben es jetzt ja geklärt."
Für einen Moment starrt er mich einfach nur an, scheint sich dann aber wieder zu fangen und setzt sich auf seinen Sessel.
„Möchtest du das Buch mitnehmen oder hier lesen?", fragt er.
„Wenn es okay ist, würde ich gern hier lesen."
Marshall nickt und lächelt mich an. „Sehr gern."

Und so setze ich mich auf sein Sofa und nehme das ockerfarbene Buch, das schon auf dem kleinen Tisch liegt, und beginne zu lesen.

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now