Lektion #5

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Okay, ich bin mir sicher, dass ich einen Gehirntumor habe. Und er wächst. Ich kann spüren, wie er in meinem Kopf immer größer wird und von innen versucht, meine Schädelknochen zu durchbrechen. Ich kann mit diesem Tumor sogar den Schmerz in meinen Haaren spüren. Außerdem sind meine Augen extrem lichtempfindlich.

Ich linse zum Bett neben mir und stelle fest, dass Andy schnarchend darin liegt. Wird er meiner Familie die tragische Nachricht überbringen? Ich sehe auf mein Handy und stelle fest, dass mein Akku leer ist. Ganz, ganz langsam setze ich mich auf und wühle in meiner Nachttischschublade nach meinem Ladekabel, um es anzuschließen.

Bekomme ich Morphium wohl rezeptfrei in der Apotheke oder muss ich mich erst der grausamen Prozedur einer Diagnose unterziehen bis ich an den harten Stoff komme? Ich kann das Blut in meinen Augen pochen sehen. Ich gebe mir noch maximal drei Monate.

In meiner Schublade liegen zum Glück auch Kopfschmerztabletten und ich würge zwei von ihnen trocken herunter. Kein Morphium, aber vielleicht helfen sie zumindest gegen den Schmerz in meinen Haaren.

Mein Handy erwacht zum Leben und ich sehe, dass ich eine E-Mail von meinem Literaturprofessor habe. Von letzter Nacht, halb drei. Hat dieser Mann kein Leben?

Von: m.holt@nyuprofessors.com
An: l.patterson@nyustudents.com
Betreff: AW: AW: Zusatzarbeit

Sehr geehrter Mr. Patterson,

offenbar sind Sie nicht an den Möglichkeiten eventueller Zusatzarbeiten interessiert, da Sie sich auf meine letzte E-Mail nicht gemeldet haben.

Nun, es ist Ihre Note.

Ihr

Marshall Holt

Wütend runzle ich meine Stirn und stöhne vor Schmerzen auf. Mein Tumor steht nicht auf Runzeln. Was stimmt nicht mit ihm? Seine E-Mail war von gestern Abend. Und es war Freitag!

So wütend und dennoch so vorsichtig wie möglich, um den Tumor in meinem Kopf – vielleicht ist es auch ein Aneurysma, das kurz davor steht zu platzen – nicht zu überreizen, tippe ich eine Antwort an den Spießer.

Von: l.patterson@nyustudents.com
An: m.holt@nyuprofessors.com
Betreff: E-Mails am Wochenende

Sehr geehrter Mr. Holt,

bitte entschuldigen Sie vielmals, dass ich nicht binnen 24 Stunden auf Ihre E-Mail geantwortet habe. Da Sie auf Ihre Bürozeiten wochentags hinwiesen, ging ich davon aus, dass Sie diesbezüglich einen persönlichen Besuch in der kommenden Woche und nicht am Wochenende von mir erwarten.

Selbstverständlich bin ich nach wie vor sehr interessiert an den Möglichkeiten, meine Literaturnote zu verbessern.

Lou Patterson

Andy stöhnt auf und ich sehe zu ihm.
„Warum brennt es?", fragt er heiser.
„Ich glaube, das ist nur Sonne", stöhne ich.
„Warum scheint sie?"
„Ich hab keine Ahnung." Erschöpft lasse ich mich auf mein Kissen zurückfallen.

Wieder piept mein Handy. Wieso ist der Typ schon wach? Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits fast vierzehn Uhr ist. Gut, das könnte eine Erklärung sein.

Von: m.holt@nyuprofessors.com
An: l.patterson@nyustudents.com
Betreff: AW: E-Mails am Wochenende

Sehr geehrter Mr. Patterson,

zunächst ist die korrekte Anrede immer noch Professor Holt.

Des Weiteren scheinen Sie der Bereitschaft zu möglichen Zusatzarbeiten nicht besonders viel Priorität beizumessen, wenn Sie es nicht für notwendig halten, mir zu antworten und stattdessen lieber dem studentenüblichen Alkoholexzess nachgeben.

Nur der Form halber möchte ich erwähnen, dass ich zu keinem Zeitpunkt behauptete, meine Bürozeiten bezögen sich nur auf Montag bis Freitag.

Ihr

Marshall Holt

Post Scriptum: Im Übrigen grenzt eine fehlende Grußformel zum Abschluss einer E-Mail an Beleidigung. Vielleicht war es Ihnen nicht geläufig, aber ein zweites Mal werde ich dies nicht als Anfängerunkenntnis werten.

Post Scriptum? Er kürzt nicht mal mit P.S. ab wie normale Menschen?
„Ist das sein fucking Ernst?!", schreie ich und zucke sofort zusammen, weil ich mir sicher bin, dass mein Aneurysma jetzt geplatzt ist.
„Alter, wieso schreist du so?", stöhnt Andy.
„Dieser Marshall Holt ist so ein spießiger Spießer!", motze ich und frage mich zeitgleich, ob meine Hirnaktivität schon abnimmt, weil mir keine bessere Beleidigung für ihn einfällt. Ich könnte ja auch einfach die Grußformel zum Abschluss weglassen, das scheint ihm ja schon zu reichen, denke ich bitter.

Mürrisch stehe ich auf, befülle unsere Kaffeepadmaschine, die Andy zum Einzug ins Wohnheim mitgebracht hat, und gehe duschen. Die Kopfschmerztabletten scheinen etwas zu wirken, denn zumindest tun meine Haare jetzt nicht mehr weh. Mein Kopf pocht noch immer unterschwellig und es ist auch immer noch alles zu hell und zu laut, aber so langsam glaube ich, dass ich doch nur den Kater des Jahrhunderts habe und nicht schon mein Testament vorbereiten muss.

Wieder im Zimmer trinke ich den Kaffee, den Andy mir inzwischen hingestellt hat.
„Gib mir nie wieder Tequila", weise ich ihn an.
Er lacht trocken. „Und ich halte mich den Rest der Woche fern von irgendwelchen Verbindungsrekorden", seufzt er.
„Den Rest der Woche?", frage ich.
„Ja."
„Andy, es ist Samstag."
„Fuck!"
„Du meintest wohl den Rest des Semesters."
„Nein!", ruft er. „Heute Abend kommen die Mädels von Eta Gamma!"
„Wer?"
Andy sucht hektisch seine Sachen zusammen und verschwindet dann im Gemeinschaftsbad.

Als er zurückkommt, habe ich ihm noch einen Kaffee hingestellt und sage: „Ich geh mal los."
„Wohin?"
„Professor Holt", ist meine schlichte Antwort.
„Lou, es ist Samstag."
„Ich weiß das. Du weißt das. Er? Weiß es nicht, denke ich. Der gute Mann scheint kein Leben zu haben und ich brauche dringend bessere Noten, wenn ich in seinem Kurs nicht durchrasseln will", seufze ich.
„Du kannst danach gerne auf der Party vorbeikommen", bietet mein bester Freund mir als Trost an.
Ich schnaube. „Ich würde jetzt gerne schon ablehnen, aber ich hab mich gestern auch eigentlich nur so abgeschossen, weil ich mich so über ihn geärgert habe. Ich weiß nicht mal mehr, wie ich überhaupt nach Hause gekommen bin."

Andy lacht mitleidig. „Ich hab noch 'nen Flachmann irgendwo. Soll ich ihn dir leihen?"
Ich schüttle den Kopf. „Nein, danke. Ich hab noch ordentlich Restalkohol. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm. Vermutlich gibt er mir noch weitere fünf Bücher zum Lesen."

Kurz bevor ich das Büro von Professor Holt erreiche, stecke ich mir noch schnell ein Minzbonbon in den Mund, weil sich mein Mund trotz fünf Minuten Zähneputzen mit der doppelten Menge Zahnpasta vorhin so anfühlt, als hätte ich einen überfahrenen Waschbären als Mitternachtssnack gehabt. Und da meine Erinnerungen seit meinem Verlassen des Verbindungshauses nur noch lückenhaft sind, kann ich das nicht mal ausschließen.

Vor seiner Tür atme ich nochmal tief durch und klopfe dann.
„Herein", kommt es von drinnen. Ich drücke die Tür auf und erwarte einen ähnlichen Anblick wie letztes Mal. Jedoch sitzt Professor Holt dieses Mal in seinem gemütlich wirkenden Sessel und hat ein Buch auf dem Schoß. Natürlich ist sein Oberkörper heute nicht frei und ich frage mich nur eine Millisekunde, warum mich das stört.

Er schaut nicht von seinem Buch auf, sondern sagt nur: „Mr. Patterson."
„Ich ... woher wussten Sie, dass ich es bin?", frage ich verwirrt.
„Beginnt man nicht üblicherweise mit einer Begrüßung?", lautet seine Gegenfrage.
Ich knirsche leise mit den Zähnen und räuspere mich. „Guten Tag, Professor Holt. Woher wussten Sie, dass ich es bin?", korrigiere ich mich.

„Kommen Sie doch erst mal rein und setzen Sie sich, Mr. Patterson", sagt er und deutet auf das Sofa, das seinem Sessel gegenüber steht. Zögerlich betrete ich sein Büro und schließe leise die Tür hinter mir.

Notenspiegel | ✓Onde histórias criam vida. Descubra agora