Lektion #3

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Mein neuer Literaturprofessor hasst mich. Andy sagt, ich bilde es mir ein, aber ich bin mir ganz sicher. Und ich habe es mir selbst zuzuschreiben. Offenbar ist Professor Holt – mir fällt es immer noch schwer, von ihm als Professor zu denken, denn er ist gerade einmal vier Jahre älter als ich (ja, ich habe ihn gegoogelt) – eine sehr nachtragende Persönlichkeit.

In den letzten Wochen hat er keine Gelegenheit ausgelassen, sich selbst als Spießer zu bezeichnen und dabei einen Seitenblick in meine Richtung zu werfen. Ich habe sogar schon überlegt, die Vorlesungen heimlich zu filmen, damit Andy mir glaubt, aber was soll das bringen?

Professor Weatherhead wird definitiv nicht bis zum Ende des Semesters zurückkehren und einen anderen Literaturprofessor gibt es nicht. Ich werde also mein Bestes geben müssen, um meinen Ruf bei Professor Holt wiederherstellen zu können.

Auf meine erste Gedichtinterpretation hat er mir eine vier minus gegeben. Darunter stand nur ‚zu einfältig'. Ich hätte ihn am liebsten in der Luft zerfetzt, denn natürlich kratzte diese Bemerkung enorm an meinem Ego. Ich war nie besonders beliebt, aber ich war schon immer davon überzeugt, intelligenter als meine meisten Mitmenschen zu sein. Und dann einfältig genannt zu werden ...

Andy feiert die Wochenenden mit seinen Verbindungsbrüdern durch. Das ist mir ganz recht, denn so kann ich die zusätzlichen Bücher lesen, die wir von Professor Holt aufbekommen haben. Dass zwei davon über achthundert Seiten haben, scheint dem lieben Professor dabei herzlich egal zu sein.
Das Einzige, was mich aufmuntert, sind meine Erfolge in meinem Informatikkurs. Das Programmieren fällt mir leicht und trotzdem es mein Hauptfach ist, kommt es mir mit den ganzen Literaturaufgaben vor wie ein Nebenfach.

Heute bekommen wir die erste Buchrezension zurück und ich bin ein wenig nervös. Professor Holt hält es die komplette Vorlesung nicht für nötig, das Thema anzuschneiden, obwohl die gesamte Studentenschaft wie auf Kohlen sitzt, da die Note gut ein Drittel unserer Gesamtnote ausmacht. Erst zum Ende der Stunde widmet er sich den Rezensionen und verteilt diese wortlos, bevor er sich verabschiedet. Meine Arbeit liegt mit den beschriebenen Seiten nach unten auf dem Tisch vor mir und ich starre einfach nur darauf. Die Studenten um mich herum reagieren auf unterschiedliche Art. Manche atmen auf, die meisten sind schockiert, ein Mädchen weint still. Niemand jubelt oder ist vollkommen begeistert.

Professor Holt hat den Saal bereits verlassen und nun nehme ich die Blätter vorsichtig hoch und sehe auf die Vorderseite.
Eine Vier. Schon wieder. ‚Nicht mehr einfältig, aber dennoch viel zu simpel.' Ich knirsche wütend mit den Zähnen. Zu simpel? Ich habe acht Tage an dieser Rezension gesessen, ich habe sämtliche Bedeutungen von irgendwelchen Natursymboliken und Ähnlichem nachgeschlagen und ausgeführt und er findet es zu simpel? Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen.

Wutentbrannt greife ich die Blätter und stapfe aus dem Vorlesungssaal. Bislang hatte ich immer einen Bogen darum gemacht, doch natürlich weiß ich, wo sich Professor Holts Büro befindet und genau dort will ich hin. Ich verlange eine Erklärung.

Wütend klopfe ich an der Tür, die mit seinem Namen beschriftet ist.
„Herein", klingt es und ich öffne die Tür schwungvoll. Der Anblick, der sich mir bietet, verschlägt mir buchstäblich die Sprache.

Das kleine Büro ist wie ein Wohnzimmer eingerichtet, mit einem gemütlichen Sofa, einem Sessel und einem Bücherregal. Ein kleiner Stehschreibtisch in der Ecke lässt vermuten, dass er tatsächlich auch hier drin arbeitet. Am meisten jedoch verblüfft mich Professor Holt selbst, der, nur in einer bequemen Jogginghose im Lotussitz und mit geschlossenen Augen auf einer Yogamatte in der Mitte des Raumes sitzt.

„Mr. Patterson", begrüßt er mich neutral und ich stutze.
„Woher–", beginne ich und sehe, dass ein arrogantes Grinsen seine Lippen umspielt.
„Was kann ich für Sie tun?", fragt er, ohne auf meine angedeutete Frage einzugehen.
„Ich wollte gern nach einer Begründung für meine Benotung fragen, Professor Holt."
„Es war mir zu simpel", antwortet er schlicht. „Habe ich das nicht notiert?"
„Ich habe acht Tage an dieser Rezension gearbeitet, als simpel kann ich das nicht bezeichnen", widerspreche ich.

Professor Holt öffnet langsam seine dunklen Augen und sieht mich an. Sein Blick macht mich etwas nervös, ebenso wie die Tatsache, dass er kein Oberteil trägt.
„Ich möchte Ihnen auch nicht absprechen, dass Sie lange daran gearbeitet haben, Mr. Patterson. Ihre ausgezeichnete Recherche der Natursymbolika habe ich gerecht in Ihre Note mit einfließen lassen", spricht er ruhig.
„Und warum habe ich dann nur eine Vier?", frage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.

„Haben Sie es gefühlt?", fragt er mich.
„Was?"
„Das Buch. Haben Sie es gefühlt?"
„Wie meinen Sie das?"
„So wie ich es sage. Haben Sie es gefühlt?"
Ich runzle die Stirn. „Ich verstehe nicht."
„Genau das ist es. Sie verstehen es nicht. Sie analysieren, aber Sie verstehen nicht. Darum wurde es nur eine Vier", erklärt er. Ich schnappe nach Luft, aber mir fällt keine passende Antwort ein.
„Gibt es sonst noch etwas, Mr. Patterson?"
„N-nein", stammle ich. Ich bin noch immer zu entsetzt und verwirrt, um die richtigen Worte zu finden.

„Dann wäre es sehr freundlich, wenn Sie die Tür leise schließen könnten, damit ich meine Meditation fortsetzen kann. Dankeschön." Seine dunklen Augen schließen sich wieder und ich starre ihn kurz an, bevor ich das tue, worum er mich gebeten hat.

Im Wohnheim setze ich mich verwirrt auf mein Bett und lese mir meine Rezension erneut durch. Ich habe das Buch in meinen Augen perfekt zusammengefasst. Ich verstehe nicht, was er von mir erwartet. Was ich aber verstehe, ist, dass ich es irgendwie schaffen muss, meine Note bei ihm zu verbessern.

Ich greife meinen Laptop und tippe eine E-Mail an meinen Professor:

Von: l.patterson@nyustudents.com
An: m.holt@nyuprofessors.com
Betreff: Zusatzarbeit

Sehr geehrter Professor Holt,

vielen Dank für das freundliche Gespräch von heute Mittag. Da ich etwas besorgt um meine Gesamtnote bin, wollte ich mich erkundigen, ob es eine Möglichkeit gibt, meine Literaturnote mit eventuellen Extraarbeiten zu verbessern.

Vielen Dank im Voraus.

Mit freundlichen Grüßen

Lou Patterson

Ich widme mich dem Buch, das wir aktuell von ihm als Lektüre zu bearbeiten haben und werde kurze Zeit später vom E-Mailton meines Handys überrascht.

Von: m.holt@nyuprofessors.com
An: l.patterson@nyustudents.com
Betreff: AW: Zusatzarbeit

Sehr geehrter Mr. Patterson,

zunächst möchte ich Sie darum bitten, sich mir gegenüber nicht mit irgendwelchen Floskeln auszudrücken. Sie und ich wissen, dass Sie mit dem Ausgang des Gesprächs von heute nicht zufrieden waren. Es also als freundlich zu bezeichnen, grenzt demnach fast schon an eine Lüge und ich hätte Sie nicht als Lügner eingestuft.

Desweiteren dürfen Sie sich gern bzgl. Zusatzarbeiten bei mir erkundigen. Meine Sprechzeiten sind täglich von 16:00 bis 17:30 Uhr in meinem Büro.

Sich im Voraus für etwas zu bedanken, ergibt im Übrigen auch keinen Sinn. Noch eine Floskel, auf die Sie bitte zukünftig verzichten möchten.

Ihr

Marshall Holt

Könnte man E-Mails zerknüllen – ich würde es tun. Ich bin kurz davor, dieses Ding auszudrucken und dann zu zerknüllen. Stattdessen schalte ich mein Handy ab und versuche weiterzulesen.

Natürlich scheitere ich damit gnadenlos und mache mich auf den Weg, um Andy zu suchen. Immerhin ist Freitag, er ist bestimmt irgendwo bei seinen neuen Verbindungsbuddies.

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now