Lektion #7

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Sobald ich zurück im Wohnheim bin, lege ich mich auf mein Bett und beäuge das Buch, das Professor Holt mir mitgegeben hat, skeptisch.
Andy scheint schon wieder im Verbindungshaus zu sein. Wie er das macht, ist mir schleierhaft. Meine Kopfschmerzen sind zwar glücklicherweise in den Hintergrund gerückt, aber der Gedanke daran schon wieder Alkohol zu trinken, bereitet mir regelrecht Übelkeit.
Ich lege das Buch auf meinem Nachttisch ab und stelle den Timer auf meinem Handy auf zwei Stunden. Anschließend lege ich meinen Kopf auf meinem Kissen ab, um kurz meine Augen auszuruhen.

Nach Ablauf des Timers schrillt mein Handy und ich reibe mir verschlafen die Augen. Andy ist noch immer nicht zurück, aber mittlerweile wird er wohl ohnehin wieder beim Pegel von gestern angekommen sein und wenn er heute Nacht überhaupt nach Hause kommt, wird das nicht innerhalb der nächsten drei Stunden passieren.

Ich setze mich gähnend auf und greife nach dem ockerfarbenen Buch von meinem Nachttisch. Es ist nicht besonders dick, was mich schon mal ermutigt, dass meine Zusatzaufgabe schnell erledigt sein wird. Zumal ich nur ein Kapitel pro Tag lesen soll. Es gibt leider kein Inhaltsverzeichnis und die Kapitel sind nicht nummeriert, sondern weisen nur einzelne Worte auf, von denen ich einige, aber längst nicht alle, kenne.

Ich lehne mich mit dem Rücken an die Wand und lese das erste Kapitel mit dem Titel ‚Herbstlaubtrittvergnügen'. Es ist relativ kurz, aber im Anschluss sehe ich unwillkürlich aus dem Fenster und muss kurz über mich selbst schmunzeln. Es ist bereits dunkel draußen, so dass ich natürlich nichts sehen kann. Dennoch habe ich das Bedürfnis, in einen Laubhaufen zu springen.

Ich stehe auf, finde auf Andys Schreibtisch einen alten Kassenbon aus dem Supermarkt und verwende diesen als Lesezeichen für das Buch. Anschließend gehe ich meine Zähne putzen und lege mich dann wieder in mein Bett.

•••

Am folgenden Tag klopfe ich pünktlich wie vereinbart um 17:30 Uhr an Professor Holts Bürotür.
„Herein", kommt es wie auch die Male zuvor von drinnen. Ich betrete das Büro und sehe Professor Holt an seinem Schreibtisch stehen, vor ihm ein Stapel Blätter – offenbar die Aufsätze seiner Kursteilnehmer.
„Guten Tag, Professor Holt", begrüße ich ihn.
„Guten Abend, Mr. Patterson. Pünktlich, das weiß ich sehr zu schätzen", begrüßt er mich, ohne aufzuschauen. „Kommen Sie herein, ich bin sofort für Sie da."

Ich schließe die Tür hinter mir und stehe zögerlich herum, da ich nicht weiß, wohin ich mich setzen soll oder darf.
„Setzen Sie sich", bietet Professor Holt an. Vorsichtig setze ich mich auf das Sofa, da mir dies am bequemsten erscheint. Mal abgesehen vom Sessel des Professors, aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass es keine gute Idee wäre, wenn ich mir diesen Sitzplatz aussuchen würde.

Professor Holt nimmt den Stapel Papiere und kommt zu seinem Sessel. Die Aufsätze legt er vor mich hin und ich sehe überrascht darauf.
„Fangen Sie ruhig mit denen schon mal an, dann kann ich den Ersten lesen, von dem ich weiß, dass ich den Inhalt auch so verstehe", weist er mich an und nimmt den obersten Aufsatz vom Stapel.
„Oh ... alles klar", stottere ich und blicke mich suchend um.
„Brauchen Sie etwas?"
„Einen Stift, mit dem ich korrigieren kann?"
„Natürlich", sagt Professor Holt und zieht einen Stift aus der Brusttasche seines schwarzen Hemds. Er reicht ihn mir und für einen winzigen Moment berühren sich unsere Fingerspitzen. Ich zucke kurz zusammen und als ich ihn ansehe, merke ich, dass er meinem Blick ausweicht und sich auf seinem Sessel etwas von mir wegdreht.

Still beginne ich, den Aufsatz, den er mir gegeben hat, zu korrigieren und stelle erfreut fest, dass der Stift nicht in diesem aggressiven Lehrerrot schreibt, sondern in einem angenehmen Moosgrün. Psychologisch sehr gut gelöst von ihm, man weist auf die Fehler hin, aber der Schüler fühlt sich nicht so gedemütigt. So habe ich selbst auch kein so schlechtes Gewissen, die Aufsätze anderer Menschen zu korrigieren, selbst wenn es keine Mitstudenten sind. Dennoch habe ich auf dem Weg hierher noch darüber nachgedacht, wie ich mich wohl fühlen werde, wenn ich plötzlich Korrekturen an fremden Arbeiten vornehme. Mit dem moosgrünen Stift fällt es mir etwas leichter.

„Woran denken Sie?", reißt mich Professor Holt aus meinen Gedanken. Ich muss lächeln, weil meine Überlegungen so absurd sind und schüttele nur meinen Kopf. „Nicht so wichtig", murmle ich.
„Mr. Patterson", spricht er mich direkt an. „Wenn ich Ihnen eine Frage stelle, hätte ich darauf gern eine Antwort und keine Einschätzung, ob diese wichtig oder unwichtig ist."
Ich räuspere mich und sehe ihn ebenfalls an.

„Ich habe lediglich darüber nachgedacht, dass Moosgrün eine psychologisch sehr weise gewählte Farbe für die Korrektur der Rechtschreibung ist. So fühlt sich der Schüler nicht so gedemütigt und ... ich selbst mich, um ehrlich zu sein, nicht so schuldig", erkläre ich, meine letzten Worte sind fast nur noch ein Flüstern.
Professor Holt mustert mich nachdenklich und nickt dann lächelnd. „Das ist eine sehr interessante und tiefsinnige Herangehensweise", sagt er freundlich.

Ich zucke mit den Schultern, denn das Ganze ist mir etwas peinlich.
„Das ist übrigens genau der Grundgedanke, weshalb ich diese Farbe gewählt habe", führt Professor Holt aus. „Ich freue mich, dass Sie ebenso empfinden."
Ich sehe ihn verwundert an, doch er wendet sich wieder seinen Korrekturen zu, ein mildes Lächeln auf seinen Lippen.

Etwa eine Stunde später reibe ich mir unauffällig die Augen, weil ich kaum noch etwas sehen kann. Ich habe mich durch gut zwei Drittel der Arbeiten gekämpft und von halbwegs lesbaren Aufsätzen bis hin zu Fehlern in fast jedem zweiten Wort war alles dabei. Professor Holt lehnt sich entspannt in seinem Sessel zurück. „Ich würde vorschlagen, wir vertreten uns kurz die Beine. Was halten Sie davon?", bietet er an. Ich nicke müde und stehe etwas schwerfällig auf.

Wir verlassen das Büro und gehen nebeneinander über den Innenhof und in den angrenzenden kleinen Park, der Teil des Colleges ist.
„Wie hat Ihnen das Kapitel gefallen?", fragt Professor Holt, ohne mich anzusehen. Unwillkürlich muss ich lächeln. „Es war ...interessant."
„Inwiefern?"
„Schwer zu sagen. Der eine Mann ist so .. statisch und kühl. Der andere so lebhaft und unbeschwert", antworte ich.
„Was haben Sie empfunden?", fragt der Professor mich weiter.
„Wie meinen Sie das?"
„Wir haben Sie sich gefühlt? Woran dachten Sie?"
Ich grinse fast schon breit. „Es klingt lächerlich", wehre ich ab.

Professor Holt bleibt stehen und blickt mich ernst an. „Genau das versuche ich, Ihnen abzugewöhnen. Bewerten Sie nicht Ihre Einschätzung, das ist meine Aufgabe. Sie teilen mir einfach mit, wie Sie sich gefühlt haben und was Sie dabei dachten und ob es lächerlich oder unwichtig ist, obliegt ganz allein meiner Wertung."
„Aber was, wenn Sie es lächerlich finden?"
„Ich kann mich nicht erinnern, eine Empfindung einmal als lächerlich empfunden zu haben. Alle Empfindungen haben ihre Daseinsberechtigung", erklärt er ruhig. „Also?"
Ich grinse verlegen. „Ich hatte unglaubliche Lust, in einen Laubhaufen zu springen und an den Blättern zu riechen."

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now