Lektion #31

5.9K 429 35
                                    

Eine weitere Tasse Kaffee später stehe ich schließlich seufzend auf und ziehe meine Schuhe an. Marshall schaut verwundert von seinem Buch auf.
„Was hast du vor?", fragt er.
„Ich muss zurück ins Wohnheim", erkläre ich bedauernd. „Andy und Sally kommen heute zurück und ich muss noch einkaufen und zumindest so tun, als hätte ich meine Ferien dort verbracht."
Marshall legt sein Buch zur Seite und steht ebenfalls auf.

„Dann sehen wir uns wohl am Montag bei der Vorlesung, Mr. Patterson", sagt er und bleibt dicht vor mir stehen. Ich verziehe mein Gesicht und erwidere: „Ja, schätze schon."
„Was ist, Louis?", fragt Marshall.
Plötzlich bin ich verlegen, obwohl wir uns in den vergangenen Tagen ausführlich kennenlernen konnten.
„Hmm", grüble ich laut. „Ich habe überlegt, ob ich vielleicht ... naja ..."

Marshall nimmt mein Gesicht in beide Hände und blickt mir tief in die Augen. „Ob du was?"
„Ob ich vielleicht deine Handynummer haben könnte", murmle ich beschämt, denn irgendwie hatte ich gehofft, Marshall würde sie mir von selbst geben.
„Oh", macht er und lässt mich los. „Das geht leider nicht."
„Sch-schon gut", winke ich ab und schlucke den dicken Kloß in meinem Hals herunter.
„Nein, Louis", sagt Marshall aufrichtig. „Ich habe kein Handy."

Verblüfft starre ich ihn an. Ist das sein Ernst?
Nun ist Marshall der Verlegene und zuckt mit den Schultern. „Es wurde mir vor einiger Zeit gestohlen. Ich habe es irgendwie versäumt, mir ein Neues zu kaufen. Anfangs war es recht ungewohnt, aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und, um ehrlich zu sein, hat es etwas unglaublich Befreiendes, nicht immer erreichbar zu sein."

„Oh", mache ich verwirrt. „Und deine E-Mails?"
„Mein MacBook läuft praktisch die ganze Zeit."
Ich runzle meine Stirn. „Ich habe dich die ganzen Tage nicht einmal am Computer gesehen."
„Du warst ja auch hier", erwidert Marshall.
„Soll das heißen, als ich nicht hier war, hast du permanent auf E-Mails von mir gewartet?", frage ich.
„Nun, nicht direkt gewartet", murmelt Marshall. „Aber ich hatte den Ton an."
Ich beginne, breit zu grinsen. „Das ist irgendwie süß."
„Ich bin nicht süß", schmollt er und ich küsse seine vorgeschobene Lippe.
„Ich finde schon."
„Aber wenn ich ein Handy hätte, würde ich dir meine Nummer geben", schiebt er hinterher.
„Das ist lieb", sage ich. „Dann schreibe ich dir eine E-Mail. Hast du vielleicht auch eine private E-Mail-Adresse?"
„Ja, einen Moment", antwortet er und holt einen Zettel und einen Stift aus dem Wohnzimmer.

Ich beuge mich vor und lege meine Lippen an sein Ohr, während er schreibt.
„Dann kann ich dir schmutzige E-Mails schreiben, ohne dass ich Angst haben muss, dass Mrs. Flanders einen Schlaganfall erleidet", wispere ich.
Marshall schnappt hörbar nach Luft und ich sehe, wie er sich auf die Lippe beißt. „Nun, wenn das so ist ...", räuspert er sich. „Dann hoffe ich, noch heute Abend von Ihnen zu lesen, Mr. Patterson."
Er faltet den Zettel zusammen und steckt ihn in die Hosentasche meiner Jeans.

In meinem leeren Zimmer im Wohnheim lege ich mich auf mein Bett und starre an die Decke. Ich habe Marshall gerade einmal eine halbe Stunde nicht gesehen und vermisse ihn schon. Ich klinge wirklich wie ein verliebter Teenager. Ich ziehe den kleinen Zettel aus meiner Hosentasche und muss grinsen.

professor.holt@gmail.com

Ich ziehe mein Handy hervor und beginne, eine E-Mail an ihn zu schreiben.

Von: lou.patterson@gmail.com
An: professor.holt@gmail.com
Betreff: Dein Ernst?

Sehr geehrter Professor Holt,

Sie haben allen Ernstes eine E-Mail-Adresse mit Professor" statt mit Ihrem Vornamen wie normale Menschen?

Herzlichst,

Ihr Lou Patterson

Post Scriptum: Ich fand die Ferien sehr schön.

Grinsend lege ich mein Handy weg und warte. Er scheint den Ton an seinem MacBook wieder eingeschaltet zu haben, denn innerhalb kurzer Zeit habe ich eine Antwort von ihm.

Von: professor.holt@gmail.com
An: lou.patterson@gmail.com
Betreff: Schmutzig?

Das nennst du schmutzig? Ich hatte irgendwie etwas anderes erwartet. Ich habe hart für meinen Titel gearbeitet und wenn ich mich korrekt erinnere, sprechen Sie mich auch ganz gern mit meinem Titel an, Mr. Patterson.

Ich habe die Ferien übrigens auch sehr genossen.

Ich lache laut auf und tippe ihm schnell eine Antwort

Von: lou.patterson@gmail.com
An: professor.holt@gmail.com
Betreff: AW: Schmutzig? Wird's noch

Keine Anrede mehr? Was ist aus der Höflichkeit geworden?
Mit dem Titel liegst du in der Tat richtig. Ich habe keine Ahnung, warum, aber aus irgendeinem Grund macht es mich an, wenn wir uns so formell ansprechen. Andererseits bin ich nicht erfahren genug um zu wissen, was mich anmacht und was nicht.

PS: Die Dusche heute früh war der Wahnsinn. Ich habe nichts gesagt, aber mein erster Gedanke danach war, dass ich plötzlich verstehen konnte, warum du es langsam angehen willst, denn sofortiger Sex mit dir hätte vermutlich meinen Tod bedeutet.

Ich stehe auf und mache mir mit unserer Kaffeemaschine einen Kaffee, als mein Handy mit einer weiteren E-Mail von ihm piept. Vielleicht sollten wir uns irgendwo einen Chat suchen, das wäre einfacher.

Von: professor.holt@gmail.com
An: lou.patterson@gmail.com
Betreff: Tod?

Höflichkeit? Ich dachte, du schreibst mir was Schmutziges. Mittlerweile kann ich mein schmutziges, unhöfliches Ich ja nicht mehr vor dir verbergen, also sparen wir uns doch die Anreden und Grußformeln, wenn ich dadurch schneller den Schmutz bekomme.

Ich habe übrigens nicht deinen Tod geplant und möchte ungern verantwortlich für eben jenen sein. Ursprünglich war meine Intention dahinter rein egoistisch, denn ich bin ein großer Freund der Verzögerungstaktik (siehe Kapitel 15 aus Wortliebe'). Ich liebe es, dabei zu sein, wenn du deine ersten Erfahrungen sammelst und der Auslöser dafür zu sein. Das heute morgen fand ich ebenfalls überaus intensiv und ich finde, wir könnten auch alle vergangenen Lektionen der Ferien beliebig oft wiederholen.

Gerade möchte ich ihm eine Antwort schreiben, als die Tür aufgerissen wird und Andy mit seinen Taschen ins Zimmer stapft. „Hey!", ruft er überschwänglich und ich stecke schnell mein Handy und zum Glück auch den kleinen Zettel mit Marshalls E-Mail-Adresse weg, als ich von meinem Bett aufstehe.
„Da bist du ja wieder!", begrüße ich meinen besten Freund freudig und umarme ihn.

„Schöne Grüße von Mom und Dad. Sie waren ein bisschen enttäuscht, dass du nicht mitgekommen bist", redet er direkt los und wirft seine Taschen achtlos auf sein Bett. Dann nimmt er meine Kaffeetasse aus der Maschine und trinkt direkt daraus. Typisch Andy.

„Wie fanden sie Sally?", frage ich. Andy grinst stolz und wird fast ein wenig rot. „Mom hätte ihr anscheinend in meinem Namen am liebsten einen Antrag gemacht. Als Sally sie zu ihren Hortensien befragt hat, hat sie fast Schnappatmung bekommen."
„Endlich mal jemand, der ihre Hortensien zu schätzen weiß", lache ich.
„Alter, es sind fucking Blumen", lacht Andy lauthals. „Aber sie haben sich super verstanden."
„Und Sally hat es auch gefallen?"
„Ja, ich denke, sie hat sich sehr wohl gefühlt. Und hier? Hast du dich sehr gelangweilt oder hat dir der Spießer noch mehr Bücher aufgebrummt?"

Natürlich spricht er von Marshall und natürlich ist für ihn Marshall immer noch der spießige Spießer, der er bis vor ein paar Wochen ja auch für mich war.
„Nein, ich hab zwei Bücher fertig und er hat mich nicht weiter genervt", weiche ich aus. Eher ich ihn und dann haben wir heute morgen unsere Schwänze unter der Dusche aneinander gerieben, denke ich und schlucke schwer.
„Vielleicht hat er ja doch ein Leben. Oder irgendwen, an dem er seinen sexuellen Frust mal abbauen konnte", lacht Andy und haut mir auf die Schulter. Unecht lache ich mit und fühle mich irgendwie schlecht dabei.

Notenspiegel | ✓Where stories live. Discover now