Du siehst müde aus

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Ich habe riesigen Hunger.

Das fällt mir erst auf, als ich aus dem Badezimmer komme, wo ich mein zerzaustes Haar, dass in hellbraunen Strähnen in alle Richtung absteht, etwas in Ordnung gebracht habe. Überall im Haus duftet es himmlisch. Scheint so, als hätte Mum Lasagne gemacht. Ich atme noch einmal tief durch. Mir ist das alles irgendwie peinlich, dass ich Mum so angefahren habe, diese seltsame Begegnung mit John, und der überstürzte Rückzug in mein Zimmer.

Wie ein kleines Kind, denke ich und gratuliere mir selbst für meine bescheuerte Reaktion.

Als ich die Küche erreiche, drehen sich alle zu mir um, und ich werde rot. „Cat, geht's dir schon besser?", fragt meine Schwester, als ich mich auf den leeren Stuhl neben John fallen lasse. Ich nicke.

"Das Knie sieht ganz gut aus", sage ich und gieße mir ein Glas Saft ein. Mum gibt mir in der Zwischenzeit ein Stück Lasagne auf den Teller und sieht mich an, ihr Blick ist ganz sanft. Ich kenne meine Mutter, sie hasst Streit genauso sehr wie ich. In diesem Moment bin ich ihr sehr dankbar, dass sie meinen Ausrutscher nicht weiter kommentiert.

Schweigend mache ich mich über die Lasagne her.
„Übrigens zieht morgen jemand in das Haus ein", sagt Dad nebenbei und trinkt einen Schluck von seinem Orangensaft.
„Welches Haus?" Marie sieht verwirrt aus.
„Das alte Hanson-Haus. Wir bekommen neue Nachbarn."

Ich verschlucke mich beinahe bei dieser Neuigkeit. Die Hansons waren zwei alte Leute, die vor ungefähr fünf Jahren gestorben sind. Zuerst die Frau - ich glaube, es war ein Herzinfarkt - und drei Wochen später der Mann. Mum sagt immer, er habe ihren Tod wohl nicht verkraften können.
Ich habe mich irgendwie immer vor dem Haus gegruselt.

Jedenfalls stand es seitdem leer. Ich habe mich schon so daran gewöhnt, keine Nachbarn zu haben, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, dass dort wieder jemand wohnen wird. Wir wohnen in einer Nebenstraße in einem kleinen Städtchen in Wyoming. In unserer Straße stehen insgesamt nur acht Häuser, vier auf jeder Seite. Unser Haus ist das letzte auf der linken Seite, direkt vor einer großen Wiese, nach welcher der Wald beginnt. Das dritte Haus - also das Hanson-Haus - ist unser einziger direkter Nachbar. Die Häuser gegenüber zählen irgendwie nicht, weil die Gärten nach hinten ausgerichtet sind und wir hauptsächlich nur ältere Menschen in der Siedlung haben. Wir sehen sie also so gut wie gar nicht. Mich hat das noch nie sonderlich gestört.

„Und wer ist es?", fragt Marie gespannt.

Mum zuckt die Schultern.
„Wir haben nur gehört, dass es ein alleinerziehender Vater sein soll. Er war vor kurzem mit seinem Sohn da, ich denke, sie haben die letzten Details wegen der Renovierung besprochen."

Renovierung also. Interessant. Alleinerziehend. Ich frage mich, wie alt der Sohn ist.

„Wie, und die kommen schon morgen?", platzt es aus mir heraus. „Davon hab ich gar nichts mitbekommen. Ihr habt gar nichts gesagt." Mum und Dad werfen sich einen Blick zu und zucken gleichzeitig die Achseln.
„Haben wir wohl irgendwie vergessen. Wir sind schon ganz gespannt. Schön, wieder Nachbarn zu haben", sagt Mum. Ihr Lächeln ist ehrlich.

Ich bin da ja noch etwas misstrauisch.



Nachdem ich die ganze Nacht nicht geschlafen habe - kein Wunder - bin ich irgendwann gegen vier Uhr früh eingedöst. Mein später Schlaf hält allerdings nicht lange an. Irgendetwas hat mich geweckt. Ich richte mich auf und sehe gähnend auf meinen Wecker. Sieben Uhr morgens. Ich bin total gerädert, aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken, als ich weiß, was mich geweckt hat.

Ich höre das Fiepen eines Lastwagens und Stimmengewirr, dass durch mein halb geöffnetes Fenster in mein Zimmer dringt. Die neuen Nachbarn, fällt es mir ein. Spätestens jetzt bin ich endgültig wach.

...und im Herzen tausend TöneWhere stories live. Discover now