Hast du eigentlich Augen im Kopf?

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„Hi, ich bin John."

Ich strecke dem gutaussehenden Mann, der sich vor mir aufgebaut hat, die Hand entgegen und drücke sie sanft. John, irgendwie passt der Name zu ihm - kurzes, dunkles Haar, ein verspieltes Lächeln und warme, braune Augen.

„Cat", erwidere ich und schenke ihm ebenfalls ein Lächeln. Kein Wunder, dass sich meine Schwester diesen Typen angelacht hat. Meine Hände beginnen leicht zu schwitzen, und versuche, sie unauffällig an meiner Jeans abzustreifen. Als John den Blick von mir nimmt, atme ich unhörbar aus.
„Du siehst deiner Schwester sehr ähnlich, Cat."
Johns Akzent ist nicht zu überhören. Ich spüre, wie mir die Röte in die Wangen schießt, lächle und wende mich dann an meine Schwester, die die Situation schweigend beobachtet.

„John, würde es dir etwas ausmachen, meine Taschen nach oben zu bringen?", zwitschert meine Schwester und grinst ihn verschmitzt an. John legt seine Hände auf ihre Schultern, seine Gesichtszüge sind sanft. Er gibt ihr einen kurzen Kuss auf die Stirn und verschwindet stumm im Flur.

„Cathy", seufzt sie und kommt auf mich zu. Genau wie John legt sie die Hände auf meine Schultern und mustert mich einen Moment. Ihre Augen strahlen eine Ruhe aus, die mich einen Moment an meinen Dad denken lässt, und ein leises Lächeln umspielt ihre Lippen. Ehe ich etwas sagen kann, umarmt sie mich stürmisch. „Wo hast du gesteckt? Du hast mir sehr gefehlt."

Ich schiebe sie ein Stückchen von mir und sehe ihr prüfend, halb grinsend, ins Gesicht. Ihre Augen sind heller als ich es gewohnt bin, und ihre Haut hat einen bronzefarbenen Schimmer angenommen. Die Reise hat ihr anscheinend wahnsinnig gut getan. Ob sie schon jemals so zufrieden gewirkt hat, wie in diesem Moment?
„Wo ich gesteckt habe?", frage ich, sie immer noch musternd, und meine Augenbrauen wandern in die Höhe.
Ich war immerhin nicht diejenige, die sich ein halbes Jahr nach Kolumbien verzogen hat. Sie merkt, worauf ich anspiele, und grinst bloß. Kleine Fältchen umspielen ihre Augen.

„Ich war in der Stadt", antworte ich schließlich, da Marie mir, anstatt zu antworten, nur kurz die Schulter drückt.
„Ich dachte, ihr landet erst am Abend?", frage ich und lasse jetzt vollends von meiner Schwester ab. „Also, du", füge ich lächelnd hinzu.

Sie schüttelt kaum merklich den Kopf und bindet sich anschließend mit einer geschmeidigen Bewegung ihr Haar zusammen. Die Überraschung, dass sie nicht alleine angereist ist, ist mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn Marie verharrt in der Bewegung und schlägt die Augen nieder.
„Nein, der Flug wurde vorverlegt. Wir sind schon seit einer Stunde da."
Sie lehnt sich gegen die Küchentheke und seufzt, während ihre Augen fast prüfend durch die Küche wandern. Eine Weile ist es still zwischen uns, und ich frage mich, was ihr wohl durch den Kopf geht.

„Und, was sagst du, kleine Schwester?" Sie zwinkert mir zu, der zufriedene Gesichtsausdruck weicht einem schelmischen Grinsen.
„Guter Fang", erwidere ich nur und grinse. „Er ist wirklich...nett."
Marie lacht und wickelt sich eine ihrer hellbraunen Strähnen um den Finger. Sie blickt einen Moment verträumt aus dem Fenster, dann dreht sie sich wieder zu mir.

„Ich weiß nicht, ob Mum und Dad das auch so sehen. Wo stecken die beiden eigentlich?"
Sie hat Recht. Meine Schwester ist erst vor einer Stunde aus Kolumbien zurückgekehrt, und von meinen Eltern fehlt jede Spur. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich.
Seltsam.

„Ich dachte wirklich nicht, dass das alles so kommen würde", sagt sie plötzlich und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Ich sehe in ihre braunen Augen und merke, dass ihre Stimmung sich verändert hat. Das Grinsen ist aus ihrem Gesicht gewichen, sie sieht besorgt aus und knabbert nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum.

Marie hat sich nach ihrem Collegeabschluss eine Auszeit genommen. Sie wollte "sich neu erfinden" (tatsächlich waren das genau ihre Worte, als sie meinen Eltern und mir ihr Vorhaben mitteilte). Ich selbst denke ja, dass sich das verdammt klischeehaft anhört, aber anscheinend hat es funktioniert. Sie hat sich - per Telefon, wohlgemerkt - nach bereits zwei Wochen von Bernard getrennt, ihrer Jugendliebe, mit dem sie vier Jahre lang zusammen war. Ich weiß nicht, ob sie John da bereits kannte - aber ich wusste bereits vor ihrer Reise, dass Bernard einer der Gründe war, warum sie weg wollte. Jedenfalls sieht meine Schwester glücklich aus. Und das gönne ich ihr.

...und im Herzen tausend TöneWhere stories live. Discover now