Jérôme #3

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Er hatte das Buch aus der Luft gepflückt ohne richtig hinzusehen. Wenn er das bloß getan hatte, um mich zu beeindrucken, dann hatte er das geschafft. Aber er sah mich ja nicht einmal richtig an. Seine Augen waren halb geschlossen und wanderten über die Wände. Ich beschloss ein Gespräch anzufangen. "Was hast du getan, dass Herr Schamm ausgerastet ist und dich hier eingesperrt hat?" Er setzte sich auf und verschränkte seine Beine zum Schneidersitz. Er sah mich an. So emotionslos wie immer. Wenn man in seine Augen sah, konnte man vergessen dass sie zu einem Lebewesen gehörten und denken, dass es bloß kalter, lebloser Stein sei. Augen sind die Fenster zur Seele. Auch zum Herzen? Hatte er ein Herz aus Stein? "Mit seiner Frau geflirtet." Mir fiel auf, wie mir wieder der Mund aufklappte und ich ihn anstarrte. Herr und Frau Schamm hatten sich dazu bereit erklärt die Aufsicht auf der fünf tägigen Klassenreise zu übernehmen. Beide waren Anfang fünfzig und glücklich verheiratet. Was wollte Jeremy denn von ihr? Sie war mindestens dreißig Jahre zu alt für ihn. Er grinste leicht. Aber es erreichte nicht seine Augen. Die blieben kalt. "Es macht Spaß. Es war nur Rumalberei. Und sie hat mitgemacht. Wahrscheinlich kriegt er sie nicht mehr befriedigt, dass er mich als Konkurrenz ansieht." Was interessierte ihn das Sexleben seiner Klassenlehrerin? "Wenn man nicht will, dass ein wenig in der Privatsphäre rumgestöbert wird, sollte man nicht mit seinem Partner auf derselben Schule sein." Wieder kam es mir so vor als hätte er meine Gedanken gelesen. Er sah mich an. "Du?" Zuerst verstand ich nicht, was er von mir wissen wollte. Dann fiel mir wieder meine ursprüngliche Frage ein. "Ach... Ich hab nur..." Ich wurde von dem Geräusch des Schlüssels im Schloss unterbrochen. Wir sahen beide angespannt zur Türe. Herr Schamm schob sich herein und schloss die Türe wieder hinter sich. Ich setzte mich neben Jeremy aufs Bett, damit er den Stuhl in Anspruch nehmen konnte. Er setzte sich aber stattdessen auf den Schreibtisch und stellte bloß einen Fuß auf den Stuhl. Ich hörte mein Herz und Jeremys Atem. Ich spürte seine Körperwärme. Ich saß ganz schön nah. Wir sahen beide erwartungsvoll zu unserem Lehrer. "Ich sehe ihr lebt noch.", begann er das Gespräch mit einem lahmen Witz. Keiner lachte. Irgendwie war die Stimmung gedämpft. "Ich hoffe ihr wisst und versteht wieso ich das getan habe." Wir nickten beide. "Gut. Dann könnt ihr jetzt abendessen gehen. Aber denkt ja nicht, dass ihr ein Zimmer mit anderen bekommt." Ich hörte, wie Jeremy mit den Zähnen knirschen. Der Lehrer wusste, dass wir nicht gut miteinander konnten. Mir machte es nicht so viel aus. Waren ja bloß fünf Tage. Aber ich dachte, dass es Jeremy an erster Stelle gar nicht um mich ging, sondern um das Prinzip, das der Lehrer damit verfolgte zwei Jungs, die sich gegenseitig bloß nervten zusammen in einen Raum zu pferchen. Jeremy stand auf und wollte schon in den Saal gehen in dem man essen konnte. "Nana. Hier geblieben.", rief Herr Schamm und sprang vom Tisch. Jeremy hatte sich umgedreht und sah ihn genervt an. "Aber Sie haben doch gesagt, wir dürften..." Wenigstens siezte er Herr Schamm noch. Dieser unterbrach ihn, was Jeremy noch mehr kochen ließ. "Aber ihr dürft euch ganz bestimmt nicht zu euren gewöhnlichen Primatenfreunden setzten. Ich verstehe auch nicht wieso Du dich unter deinem Niveau bewegst." Ich dachte jetzt da Herr Schamm über seine Freunde hergezogen war, würde Jeremy vollends ausrasten, aber er zuckte nicht einmal mit der Wimper und machte dann einen Schritt zurück, damit Herr Schamm vorgehen konnte.

Wir folgten ihm durch die Gänge der Herberge und kamen in den Speisesaal, wo er uns den Vortritt ließ. Alle saßen schon. Jeremys Clique winkten ihn zu sich, aber er beachtete sich nicht einmal, obwohl er sie offensichtlich gesehen hatte. Alle Augen hatten sich auf uns gerichtet. Ich kam mir vor wie ein Outlaw. Geächtet und vogelfrei. Jeremy schien in dieser Aufmerksamkeit bloß noch mehr zu wachsen und ich war froh nicht alleine in den Raum getreten zu sein, weil sowieso bloß alle Augen an ihm hafteten. Mir fiel etwas bewusst auf, was ich davor noch nie bemerkt hatte. Jeremy zog Aufmerksamkeit auf sich wie Licht die Mücken. Und durch die Augen die auf ihm ruhten, wenn er einen Raum betrat, schien sein Licht noch heller, während die anderen verblassten. Jeremy beachtete sie gar nicht. Herr Schamm schob uns in die Richtung des Tisches, wo seine Frau und Herr Rieber saßen. Zwar waren an den Tisch zwölf Plätze, aber es waren gerade mal sieben belegt. Drei von den Lehrern und vier von ein paar Strebern, die gerade wahrscheinlich über die Relativitätstheorie diskutierten. Sie waren anscheinend irgendwie immun gegen die Schwingungen mit denen Jeremy ausgestattet war, um alle Blicke auf sich zu lenken. Ich wollte da nicht sitzen!! Das war der LL Tisch. Lehrer und Loser. Jeremy sah weder nach links oder rechts, steckte die Hände in die Hosentasche und schlenderte leicht zurückgelehnt zu dem Tisch. Er setzte sich auf einen Stuhl, wo mindestens zwei Stühle Abstand zum nächsten Lehrer oder Streber lagen. Der beste Platz. Er grinste und zwinkerte Frau Schamm zu. Sie kicherte, wie ein Schulmädchen und lächelte ihm zu. Herr Schamm setzte sich zu seiner Frau, ließ uns jedoch nicht aus den Augen. Ich stand immer noch unschlüssig da. Wo sollte ich mich hinsetzten? Ich entschied rechts von Jeremy. Ich wollte lieber einen Fetzen, der Diskussion mitbekommen, statt das Gespräch der Lehrer über Notenspiegel und Versetzungs gefährdete Schüler. Jeremy hatte die Arme vor der Brust verschränkt und rührte nichts an, was auf dem Tisch lag. Er ließ seine Augen über den Raum schweifen, als wolle er die Lage analysieren. Oder seine Flucht vorbereiten. Vielleicht mochte er es nicht mit dem Rücken zu einem Raum zu sitzen. Seine Körper gab zwar vor entspannt zu sein, dafür wirkte aber sein Gesicht umso angespannter und seine Augen schweiften unruhig hin und her. In ihnen flackerte etwas, das ich nicht deuten konnte. Ich gab auf den Jungen zu verstehen, griff nach meinem Teller und schöpfte mir aus dem Topf, in dem beigegelb Kartoffelsuppe mit Würstchen schwabbten, der in der Mitte des Tisches stand. Alle unterhielten sich, außer Jeremy und ich. Frau Schamm sah zu uns herüber, bemerkte das anscheinend auch, entschuldigte sich, nahm ihren Teller, stand auf und setzte sich neben Jeremy. Sie strich ihren Rock glatt und begann darüber zu reden, dass der National Sozialismus ja eigentlich bloß durch die schlechte soziale Lage so weit fortschreiten konnte. Okay, entschuldigt. Ich war der Einzige der schweigend seine Suppe löffelte. Wie aber kam Frau Schamm darauf, dass ein Junge, sich zu so einem Thema überhaupt auf ihrem Niveau äußern konnte? Als Jeremy dann aber irgendwelchen Theorien aus irgendwelchen Fachbüchern von irgendwelchen Professoren mit irgendwelchen Auszeichnungen zu bedenken gab und sie anfingen zu diskutieren, seufzte ich und kam mir vor wie ein ungebildeter Trampel. Woher kannte er diese ganzen Bücher? Er sah aus wie jemand, der sich am Wochenende zudröhnte und nicht einmal wusste, wie man las. Geschweige denn was für eine politische und wirtschaftliche Lage vor dem National Sozialismus herrschte. Und jetzt war ich es, der die Hälfte der Zusammenhänge nicht verstand. Ich lehnte meinen Kopf auf meine Hand. Depp vom Dienst.

°°°°°°°

Herr Schamm hatte uns zum Küchendienst eingeteilt. müssten wir jetzt für den Rest der Reise etwas die Drecksarbeit machen? Jeremy hatte sich eine der dunkelbraun, fleckig Schürzen umgebenden, die neben der Türe an Hacken hingen, sich kurzerhand an die Spüle gestellt und spülte. Jetzt konnte ich abtrocknen. Man sah, dass er nicht das erste Mal abspülte. Seine Hände waren mit weißem Schaum bedeckt. Sie waren groß und schön. Fast schon zierlich für einen Jungen. Er summte eine Melodie vor sich hin und es schien ihm fast Spaß zu machen. Ich wagte mich ein wenig vor. "Magst du es abzuspülen?" Er nickte und legte einen Teller zu den anderen. "Mein WG Mitbewohner ist ein hoffnungsloser Fall, was Ordnung betrifft und so habe ich angefangen mit Putzen und Abspülen und all dem Kram. Es entspannt und wenn man sauer ist kann man sich abreagieren." Wow. Dieser Junge überraschte mich immer wieder. Zum einen mit der Menge von Worten. Er war ja richtig redselig geworden. Und dann über ihren Inhalt. Ich nickte. Er lächelte. Eins von dieser kleinen, traurigen Lächeln. "Das ist irgendwie komisch so etwas zu erzählen..." Ich erwiderte nichts und das Schweigen breitete sich wieder im Raum aus, einzig gestört durch das klappern von Geschirr und das Plätschern des Wassers. Ich kannte die Melodie nicht, die er nach einigen Momenten wieder aufgriff zu summen, aber sie war beruhigend.

Er stellte den letzten Teller in das Abtropfgitter, wischte sich seine feuchten Hände an seiner Jeans ab. Er strich sich mit dem Handrücken über die Stirn, wobei die Strähnen sofort wieder in ihre alte Position fielen und sagte "Fertig!" Statt jedoch einfach zu gehen und mich hier fertig abtrocknen zu lassen, machte er ein paar Schränke auf, bis er anscheinend fand, was er suchte. Er ließ ihn offen stehen und nahm ein paar Teller von dem Stapel, von den Tellern, die ich schon abgetrocknet hatte. Es waren quasi alle. Er trug sie zu dem Schrank, stellte sie hinein. hängte die Schürze weg und ging ohne mich nocheinmal anzusehen. Als ich mir sicher war, dass er weg war, versuchte ich die Teller hochzuheben, die er getragen hatte. Ich klemmte mir nur meine Finger ein und mir fiel einer sogar runter, aber er hatte sich bloß ein wenig den Rand abgeschlagen. Nichts was auffallen würde. Ich mochte ihn nicht. Er war arrogant, überheblich und verdammt nochmal eigenartig. Herr Schamm kam herein als ich gerade die letzten Teller verstaute. Ich hatte sie immer in fünfer Packs getragen. "Wow. Ganze Arbeit. Wo ist dein Kollege?" "Schon vorgegangen." Er runzelte kritisch die Stirn. "Aber er hat schon auch etwas getan?" Ich nickte langsam. "Er hat abgespült." "Dann glaube ich das mal. Ich wollte bloß sagen, dass wir heute Abend vorhatten ein kleines Lagerfeuer zu machen. So gegen neun Uhr. Ich denke alle haben es mitbekommen außer ihr beide. Wenn du ihm das dann auch noch sagen könntest?" Ich nickte und er ging wieder. Ich konnte nicht sagen, ob er mir glaubte, dass Jeremy geholfen hatte. Sollte mir egal sein. Der Junge ging mich nichts an. Ich riss die Türe zu unserem mini Zimmer auf und er bekam sie fast in die Fresse. Ich sah ihn kritisch an. "Was wird was?" Er breitete eine Decke auf dem Boden auf, warf ein Kissen darauf und eine weitere Decke. Dann stämmte er die Arme in die Seite und sah sich das Geschaffene an. "Dein Bett.", sagte er knapp und setzte sich aufs richtige Bett. "Was?" Meine Stimme klang leicht hysterisch."Du pennst auf dem Boden.", sagte er ruhig. "Wieso ich?" Er bedachte mich mit einem Blick, als sei ich minderbemittelt. "Du bist als letzter gekommen..." Und nach einer kurzen Pause, in der er sich wahrscheinlich dachte, dass er mich auch nicht im Bett schlafen, lassen würde, wenn ich zuerst da gewesen wäre: "Ich will das Bett. Ich krieg das Bett." Ich hatte wirklich null Bock mit ihm darüber zu diskutieren. Ich war echt müde und musste auch noch das Lagerfeuer über wach bleiben. Ich zuckte mit den Schultern. "Wir gehen nachher ans Lagerfeuer. In einer halben Stunde sollen wir spätestens da sein." Er nickte. Und legte den Kopf schief während er mich ansah. Ich fragte mich, was er dachte und versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen. "Ich geh schonmal hin. Vielleicht kann ich ja beim Feuer anzünden helfen.", sagte ich schließlich, um endlich aus dem Raum rauszukommen. Er schien sich um mir herum zusammenzuziehen. Schnell ging ich aus dem Raum und schloss die Türe hinter mir. Bloß weg von ihm.

× Messed & Broken Hearted ×Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt