Jeremy #22

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Ich stellte mein Auto ab und wünschte mir, ich hätte ihn nicht dazu gezwungen, mich hierher mitzunehmen. Ich starrte durch die Frontscheibe die kleinen, aneinandergedrängten, quadratischen Behausungen. Eine Frau in zu kurzen Kleidern und zu viel Schminke sah hoffnungsvoll zu mir. Müll stapelten sich am Ende einer Sackgasse und alles sah klein und heruntergekommen aus. Als sei die Welt mit einem Mal auf diesen kleinen armseligen Ort geschrumpft.
Am liebsten hätte ich gewendet und wäre wieder weg gefahren. Weit weg. Und ich wusste, dass ich das konnte. Jérôme nicht. "Tut mir Leid. Ich..." Ich hörte das Geräusch seiner aufeinander schlagenden Zähne. "Ich brauche kein Mitleid." Es klang gepresst. Ich sah ihn zögernd an. Er sah angespannt aus. "Ich sage das nicht aus Mitleid. Ich verstehe bloß, dass dir das unangenehm ist und mir tut es Leid, dass ich dich dazu gebracht habe mich..." "Jetzt halt mal die Luft an und komm." Er stieg aus und schlug die Türe zu stark ins Schloss. Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen das Lenkrad geschlagen, während er den Kofferraum öffnete und die Büchertasche raushievte. Ich stieg aus, bot ihm aber nicht an ihm zu helfen, da er nicht aussah, als würde er die Hilfe annehmen. Leise ächzend schwang er die Tasche über eine Schulter und kramte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Die Pflanzen in den Tontöpfen, die die Treppe hoch zu der Türe säumten wirkten wie das einzige Grün in dieser Ansammlung von heruntergekommenen Wohnungen. Er drückte mir die Tasche in den Armen, bevor er seine Schulter gegen die Türe drückte, mit einer Hand an der Türklinke zog und versuchte mit der anderen den Schlüssel im Schloss zu drehen. Die Türe sprang widerwillig auf. Er trat ein und stellte die Tasche, die er mir wieder aus den Händen genommen hatte auf die Arbeitsfläche, der kleinen Küche. Ich schloss hinter mir die Türe. Alles schien beengt und dennoch so, als hätte jemand versucht es heimelig einzurichten. Ein paar alte, zu bunte Kinderzeichnungen hingen mit Magneten befestigt am Kühlschrank. "Gehen wir in mein Zimmer.", stellte er fest und stapfte durch das nahtlos an die Küche anschließende Wohnzimmer mir dem mehrfach geflickten Sofa und dem alten Röhrenfernseher in ein dunklere Art von Flur, von der zwei Türen abgingen. Der Flur war dunkel und wirkte noch enger als er ganze Rest der Wohnung. Als wir in sein Zimmer traten kam es mir zu klein für zwei Jungen vor. Er schloss die Türe, ließ die Tasche auf den Sessel fallen, den er als Schreibtischstuhl benutzte und klappt das ungemachte Bett hoch, sodass es dumpf gegen die Wand schlug und ein Fetzen Decke unten raus hing. "Arbeiten wir auf dem Boden." Ich nickte. "Tut mir Leid, wenn dir dadurch unbehaglich wird...", sagte er langsam und räumte ein paar Dinge beiseite. Hauptsächlich Bücher, die er in einer Ecke aufeinander stapelte. "Das macht nichts.", sagte ich vorsichtig und sah mich um. Die Wände waren vergilbt, den Schrank konnte man nur noch in seinen Konturen erkennen und die Polsterung des Sessels mehrmals geflickt. "Willst du mit dem Plakat anfangen?" "Mhm." Er nickte knapp und zog das Plakat, das wir gekauft hatten vom Regal runter und ließ es auf den Boden gleiten. "Kekse oder so?" Ich nickte knapp und verdrehte die Arme einer Joker Actionfigur. Er kramte in einer Schublade rum, stapelte die Sherlock Holmes Bücher auf, verteilte ein paar Kissen und warf mir auch eins zu und ließ sich dann auf eins neben mich fallen. Ich legte die Actionfigur beiseite und starrte das leere hellgraue Plakat an. "Überschrift und Aufteilung?" "Sherlock Holmes. Drunter kleiner Sir Arthur Conan Doyl." Dann zeigte er auf unterschiedliche Stellen des Plakates. "Autor, Charakterisierung der Hauptperson, Nebenfiguren, Fälle und moderne und klassisch Darstellung." Ich nickte und riss die Chocolate Crisp Cookie Packung auf. "Dann hätten wir das ja." Er lächelte schmal und griff über meine Oberschenkel nach einem der Kekse. "Also sind wir fast fertig.", witzelte er und ich war erleichtert darüber, dass er wieder weniger angespannt klang. Er zog einen schwarzen Filzstift und ein langes Lineal von seinem provisorischen Schreibtisch, der aus einer Sperrholzplatte auf zwei aufgestellten Weinkisten bestand. "Schreibst du?", fragte er mit schief gelegtem Kopf und reichte mir noch einen Bleistift. Ich seufzte und griff nach Bleistift und Lineal. "Danke. Bei mir wird es immer so schräg.", erklärte er und es klang beinahe erleichtert. Ich nickte, klemmte mit den Bleistift zwischen die Zähne und richtete das Lineal gerade aus.
Die ganze Zeit, während ich die Striche zog und versuchte die Buchstaben ansatzweise gerade in gleichgroß zu schreiben, legte er Musik ein, ließ Grease von Frankie Valli laufen und ich spürte seinen Blick auf mir. Er bohrte sich zwischen meine Schulterblätter und mir wurde warm unter ihm. Nervös klemmte ich mir eine Strähne hinter mein Ohr und versuchte das H von Holmes schön hinzubekommen. Als ich ihn weiterhin auf mir spürte, atmete ich genervt aus und sah auf. "Ist etwas? Hab ich etwas im Gesicht?" Er errötete hauchzart und wendete seine Augen ab. Die Sonne schien hinter ihm durch das Fenster, über dem Schreibtisch und ließen seine Haare wie einem Heiligenschein wirken. Ich richtete mich auf und schloss den Deckel des schwarzen Filzstifts.
Er sah mich immer noch nicht an und dennoch konnte ich mir vorstellen, was er sagen wollte, woran er dachte.
Ich hatte in den letzten Wochen seine Blick gespürt, die ich alle geflissentlich übersehen hatte. Ich würde es niemals laut aussprechen, aber ich war froh, dass wir bei den Präsentationen einander zugeteilt worden waren.
In dem Moment, als ich mich fragte, ob ich etwas sagen sollte, wandte er mir wieder seine Augen zu. Der Ernst und die kindliche Neugier, die darin lagen überraschten mich immer wieder. Die Mischung wirkte, als wisse er mehr über die Welt, als seine Gestalt es erahnen ließ. "Welches war dein erstes Tattoo?"
Für einen Augenblick hatte ich keine Antwort parat. Ich hatte mit einer Frage, einem Gesprächsanfang gerechnet, aber nicht das.
"Eine Hummel an meinem Handgelenk." Er sah mich überrascht an, bevor er losprustete. "Eine Hummel?!"
Ich schob den Ärmel meines Oberteils über meinem linken Handgelenk nach oben und zeigte ihm das schwarz weiße Tattoo auf meiner Haut, das aussah wie eine dicke Biene. Er strich mit den Fingerspitzen darüber und ein warmer Schauer lief über meinen Körper.
"Ich habe es mir eigentlich bloß stechen lassen, um meine Eltern zu ärgern. Aber ihnen ist es schlussendlich nicht einmal aufgefallen." Er nickte leicht und ließ seine Hand sinken.
"Weshalb gerade eine Hummel?" "Physikalisch betrachtet dürften Hummeln gar nicht fliegen können, aber sie tun es und das ist irgendwie inspirierend." Er grinste mich schräg an und seine Augen strahlten in diesem Moment ungewöhnlich intensiv.
"Du kannst ja richtig philosophisch sein, wenn du nicht gerade dealst oder ein Arschloch bist." "Genieße den Moment. Es kommt nicht allzu oft vor."
Er nickte, als wisse er das schon und ich fragte mich, worüber er sich den Kopf zerbrochen hatte. Nicht bloß in den Wochen, in denen wir seit der Freizeit kaum ein Wort mehr miteinander gewechselt hatten, sondern worüber er sich Gedanken machte, welche Ansichten er vertrat und ob sich unsere auch bloß irgendwo annähernd überschnitten.
"Warst du schon einmal im Herbst auf einem Gartenfest?" Die Frage rutschte mir über die Lippen, ohne dass ich mir Gedanken darüber gemacht hatte. Seine Stirn, die zu jung dafür wirkte, legte sich in Falten. Vermutlich wunderte er sich über den abrupten Themenwechsel. "Also... Ich war eigentlich noch nie auf einer Gartenparty. Nur einmal auf einem Grillfest im Schrebergarten von meiner Tante, aber das meinst du vermutlich nicht."
Ich schüttelte leicht den Kopf und sah aus dem Fenster. Der Himmel schien durch die Äste von den kahlen Bäumen, die man durch das Fenster sah in tausende klar hellblaue Splitter zerteilt zu werden.
"Sie sind immer ziemlich langweilig und meistens gibt es einen viktorianisch angehauchten Wintergarten, um sich dorthin zurückzuziehen, wenn es doch regnen sollte. Man trinkt Tee und Kaffee und unterhält sich über Belanglosigkeiten, während man Mini Cupcakes isst." Ich machte eine kurze Pause. Es kam mir unangebracht vor in diesen Räumen, die mit so viel Mühe heimelig gestaltet worden waren, aber aus denen dennoch die Armut sprach über solche Dekadenz zu sprechen, die ich in meinem Leben ganz normal hinnahm.
"Dieses Wochenende feiert meine Cousine mit ihrem Mann ihren zweiten Hochzeitstag ganz groß und natürlich schleift mich meine Mutter dorthin mit, weil es zur guten Manier gehört zu erscheinen." Sein Blickt ruhte immer noch auf mir, als wisse er nicht worauf ich hinaus wollte. "Zwar muss ich kommen, aber sie hat nicht gesagt, ob ich alleine kommen soll." "Du meinst...? Ich soll mitkommen?"
Ich nickte, auch wenn ich nicht sagen könnte, weshalb ich es vorgeschlagen hatte und ob es tatsächlich eine gute Idee war.
"Aber... Das geht nicht. Ich wüsste gar nicht was man da anzieht oder wie man sich verhält!"
"Kleider kann man kaufen und sie sind auch bloß Menschen." "Menschen, die seit ihrer Geburt von Luxus und Geld umgeben sind. Ich gehöre dort nicht hin. Das werden sie merken."
Ich verbannte alle Herzlichkeit und Wärme aus meinem Gesicht, bevor ich ihn kühl ansah und eine Augenbraue hochzog. "Dann tue es für deine Zukunft."
Er sah mich stutzig an. "Wie bitte?"
"Was willst du mal studieren?" "Also.." Er wich meinem Blick aus, als wolle er die Kälte nicht darin sehen. "Was hat das denn damit zu tun?"
"Dort sind lauter alte Leute, die nicht wissen wohin mit ihrem Geld und bevor sie es an ihre Kinder vererben, die sie sowieso nicht ausstehen können, geben sie es lieber verheißungsvollen charmanten jungen Männern, die es brauchen."
"Ist das wirklich so?" Kurz lag Verunsicherung in seinem Blick. Dann schloss er seine Augen und nickte. "Okay, ich komme mit." Triumph sprudelte in mir hoch. "Wenn du mir sagst wie ich das bezahlen soll, was ich dort tragen muss. Und ich will gar nichts davon hören, dass du mir das zahlst." Das wäre das Einfachste gewesen, aber ich sparte mir diese Feststellung. So wie ich ihn einschätzte, würde ihn das nicht umstimmen. "Du bist etwas kleiner als ich. Wir könnten bei meinen alten Anzügen schauen, ob sie dir passen. Oder du leihst dir was. Oder ich lege dir das Geld aus." Er sank in sich zusammen und atmete geräuschvoll aus. "Ich muss auch noch einen Anzug tragen? Das wird ja immer schöner." Ich grinste ihn schief an. "Du siehst bestimmt putzig darin aus."

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Endlich habe ich es geschafft weiter zu schreiben und die Änderungen in die Tat umzusetzen.
Natürlich wollte ich es besonders gut machen und nichts vermasseln, weshalb es noch länger gedauert hat.
Ich hoffe ich habe nichts verschlimmbessert und dass es euch weiterhin gefällt.

Auch ein schönes neues Jahr 2017 an alle meine Lesekekse!!

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