Jeremy #18

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Die Busfahrt war nervtötend gewesen. Die meisten hätten sich wahrscheinlich glatt einen Finger abgehackt um bei den 'Coolen' hinten im Bus sitzen zu dürfen, während ich einfach bloß genervt von der Musik aus den Lautsprechern war und keine Lust hatte den Schminktipps von Jaqueline und Gina zu lauschen. Gleichzeitig auch noch immer wieder unauffällig in meine Tasche zu schauen, die meine Oberschenkel aufheizte, war auch schwer gewesen wenn, wenn Marco sich die meiste Zeit zwischen den Sitzen zu mir vorgelehnt hatte. Ich atmete erleichtert auf, als der Bus ruckelnd zum Stehen kam. Die meisten sahen aus den Fenstern um ihre Eltern zu sehen, während ich meinen Rucksack von der Anlage über unseren Köpfen holte und raus stapfte. Ich hatte vergessen, wie süß frische Luft schmeckte und meine Knie fühlten sich wackelig an, weil ich so lange gesessen war. Nirgends war ihr Wagen zu sehen. Genervt zog ich mein Handy aus meiner Tasche. Während das Rufzeichen erklang sah ich wie Jérôme an mir vorbei auf eine Frau mit braunrötlichen Haaren in der Nähe zuschlenderte, die vor einem alten, rostigen Polo stand und ihn warm anlächelte. Leise klickte etwas in der Leitung, als das Gespräch angenommen wurde. "Ja?" "Du wolltest mich abholen." Ich verschleierte nicht die Tatsache, dass es ein Vorwurf war. "Oh." Ich konnte mir ihren Blick auf die Uhr vorstellen. "War das schon heute?" Sie klang ernsthaft verblüfft. "Ja, Mom! Es war heute!" Kurze Stille. Vermutlich überlegte sie sich wie sie sich am besten aus der Affäre ziehen konnte, ohne zu offenbaren, dass sie mich für einen Kaffeeeklatsch mit ihren tollen Freundinnen oder einen Friseurtermin vergessen hatte. "Also kannst du nicht Tommaso anrufen und ihn fragen, ob er dich abholen kann?" Ich biss meine Zähne zusammen und wandte mich von Jérôme und seiner Mutter ab, die sich gerade lächelnd umarmten. "Du hast Tommaso vor zwei Wochen gefeuert, weil er sich um fünf Minuten verspätet hat." Als vergaß sie Details über unseren ehemaligen Choffeur genauso schnell wie welche über ihren eigenen Sohn. "Ach ja. Stimmt. Kannst du dir nicht ein Taxi rufen?" "Ich habe kein Portemonnaie." "Dann ruf deinen Vater an." Ich atmete zischend aus. "Glaubst du wirklich, er hat Zeit?" "Jeremy, ich habe gerade wirklich keine Zeit." Es klang beinahe hilflos. So wie immer. Etwas in meiner Brust schwoll an, das mich schreien lassen wollte. Ich wollte etwas zerschlagen, etwas treten. Sonst würde ich platzen. Stattdessen presste ich bloß meine Lippen aufeinander, damit ich nicht die ganzen Ausdrücke aussprach, die mir einfielen. "Wir sehen uns dann, ja?" "Ja." Es klang hart und kantig und am liebsten würde ich mein Handy von mir schmeißen, als das Tuten durch die Leitung klang, dass sie aufgelegt hatte. Aber ich steckte es bloß mit bebenden Fingern ein. Konzentriert darauf nicht gegen irgendetwas zu laufen, alles versank in weißem Dunst und unterdrückte einen Aufschrei, während ich mich umdrehte, eine Dose quer über den Parkplatz kickte und über den Asphalt stapfte. "Jeremy?" Überrascht zuckte ich zusammen und drehte meinen Kopf. Jérôme winkte mir zu. Ich seufzte, versenkte meine Hände in den Hosentaschen und stapfte auf ihn zu. "Was ist?" Seine Mutter saß schon hinter dem Lenkrad und musterte mich neugierig und mit einem netten Lächeln auf den Lippen. "Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?" Überrascht sah ich ihn an. Ich hatte mit beinahe allem gerechnet, dass er sich noch einmal für vorletzte Nacht bedankte, dass er mich bat es niemand zu erzählen, dass er mir sagte, was für ein uneinfühlsames, egoistisches Arschloch war, aber nicht damit. "Also... Streng genommen..." "Wenn nicht würde dich meine Mutter fahren." Noch einmal sah ich zu der Frau in dem heruntergekommen aussehenden Auto, dann nickte ich, aber er sah es gar nicht, da er sich schon umgedreht hatte und auf das Auto zuging. Ich folgte ihm. Er ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, während ich mich neben meinem Rucksack auf die Rückbank quetschte. "Vielen Dank, für das freundliche Angebot." "Oh, es war Jérômes Vorschlag.", sagte sie lächelnd. Ihre Stimme war angenehm. Jérôme boxte sie leicht mit roten Ohren. Sie fuhr auf die Autobahn und ich bemerkte, dass sie immer noch einen eingebauten Kasettenrekorder im Auto hatten, der leise J. J. Cale von sich gab. "Wo wohnst du denn, Jeremy?" Ich sah auf. "Oh... Sie können mich einfach in der Oak Lane absetzen. In meiner Straße ist zur Zeit eine Baustelle." Die Lüge kam mir wie von selbst über die Lippen. "Bitte duze mich einfach.", sagte sie lächelnd. "Helen.", fügte sie hinzu. "Ich lächelte sie umwerfend strahlend an. Jérôme zog eine Augenbraue hoch, als überrasche es ihn, dass ich zu so etwas überhaupt im Stande war und sah aus dem Fenster. "Seid ihr befreundet? Jérôme hat dich nie erwähnt." Ihr Sohn sah etwas panisch über diese Frage zu mir, aber ich lächelte bloß weiter. "Durch ein paar Begebenheiten haben wir in der Woche etwas mehr miteinander zu tun gehabt." Begebenheiten war eine ziemlich nette Umschreibung für Herr Schamms Maßnahmen, aber man musste es ja nicht unnötig umschreiben. "Verstehe. Werde ich dich dann in Zukunft öfter sehen?" Beinahe klang es hoffnungsvoll, aber ich konnte nicht sagen, ob das daran lag, dass sie mich sympathisch fand oder sich einen Freund für ihren Sohn wünschte. "Definitiv nicht.", sagte Jérôme bevor ich zu Wort kam. Es klang hart und endgültig. Seine Mutter sah ihn einen Augenblick überrascht an, aber fragte nicht. Kurz war bloß das spotzende und ratternde Geräusch des altersschwachen Wagens um uns herum und das leise Lied zu hören. Das Lied endete und ein neues begann. "Oh." Helen Gesicht erhellte sich und sie drehte das Radio auf, das knisternd zu protestieren schien. Cocaine dröhnte in ohrenbetäubender Lautstärke los und ein Lächeln stahl sich auch auf seine Lippen. Sie klopfte den Takt auf das Lenkrad zu der fantastischen Gitarre und sie sangen gemeinsam los, als J. J. Cales Stimme durch das Auto waberte. If you want to hang out, you've got to take her out, cocaine. Ich lächelte über ihre ausgelassene Lautstärke und lehnte mich zurück. Sie lachte fröhlich und schienen für einen Augenblick vergessen zu haben, dass ich auch im Wagen war. Wieso konnte es nie zwischen mir und meiner Mutter so sein? Etwas zog schmerzhaft in meiner Brust und ich schob es verärgert zur Seite. während ich die dahinziehenden Schatten der Bäume am Straßenrand betrachtete. "Oh, verdammt.", unterbrach Helen den Gesang, als das Lied schon beinahe zu Ende ging. Jérôme verstummte auch verlegen lachend. "Das ist so etwas wie unsere Familienhymne.", erklärte sie, während sie sich vor zur Frontscheibe beugte und rausspäte. "Was ist, Mom?" "Ich bin an der Einfahr vorbei gefahren.", erklärte sie lachend, während sie die Spur wechselte. "Du kannst die nächste Einfahr raus. Das ist nicht einmal ein großer Umweg.", erklärte ich schnell. "Hier?" Bevor ich antworten konnte war sie schon auf die nächste Spur gezogen und rausgefahren. "Ja. Genau." "Fährst du auch?", fragte sie neugierig und warf mir einen Blick im Rückspiegel zu. "Ich habe vor Kurzem erst meinen Führerschein bekommen. Also zu sagen, dass ich tatsächlich fahre, wäre übertrieben." Sie nickte. "Es ist toll, wie mobil man mit einem Auto ist. Nicht von Wetter und irgendwelchen Busfahrzeiten abhängig zu sein." Ich grinste. "Wahrscheinlich werde ich meinen Führerschein erst einmal für mitternächtliche Touren zum nächsten McDonalds nutzen." Sie lachte und nickte. "Das kann ich mir gut vorstellen, auch wenn man dir das nicht ansehen wird." Helen hielt mit dem Auto und drehte sich zu mir um. "Es war wirklich nett dich kennen zu lernen." Ich schnappte meinen Rucksack an einem der Schulterriemen. "Die Freude war ganz meinerseits." Ich hätte mir die Zunge abbeißen können, als mir auffiel, dass meine Ausdrucksweise zum Vorschein kam. Wie wenig man schlussendlich gegen Erziehung tun konnte. Jérôme winkte mir halbherzig, als ich ausstieg. "Man sieht sich in der Schule.", sagte ich bevor ich die Türe ins Schloss schlug. Ich winkte während sie um die nächste Ecke bogen. Seufzend setzte ich meinen Rucksack auf. Ich musste jetzt noch knapp zehn Minuten laufen, aber es war besser, als mich vor der Villa meiner Eltern von ihnen zu verabschieden. Nicht weil ich sie nicht in ihrem schäbigen Auto vor diesem reinen, weißen, sterilen Gebäude haben wollte, sondern eher, weil sie sich nicht irgendwie herabgestuft vorkommen sollte. Sie waren so nett und freundlich, da wollte ich ihnen nicht vor den Kopf stoßen.

Als ich in der Einfahrt ankam, parkte gerade das Auto meiner Mutter. Ich hatte ihren perlmuttfarbenen Mercedes noch nie ausstehen können. Sie stieg in Pumps und einem knielangen weißen, eleganten Kleid aus. Als sie mich sah, setzte sie ihre Sonnenbrille ab, nachdem sie ihrem Fahrer bedeutet hatte, dass er wegfahren könne. Lautlos glitt das Auto davon. Sie verstaute die Sonnenbrille in ihrer Handtasche und kam auf mich zugestöckelt. "Ach, da bist du ja." Sie lächelte und verpasste mir einen Kuss links und einen Kuss rechts auf die Wangen. Das hatte sie aus irgendeinem schlechten italienischen Film. "Ich muss dir unbedingt etwas zeigen." Sie trippelte voran. Ich folgte ihr und machte mir nicht einmal mehr Gedanken darüber, dass sie mir weder nachträglich zum Geburtstag gratulierte noch eine Sekunde damit verschwendet hatte, zu fragen wie es gewesen war. Vermutlich hatte sie zum einen schon längst wieder vergessen, wo ich gewesen war und zum anderen meine Abwesenheit kaum bemerkt. "Also..." Sie schloss auf und lächelte mich verheißungsvoll an. "Das ist das Geburtstagsgeschenk von deinem Vater und mir." Sie stöckelte voran in mein Zimmer, nachdem sie ihre Tasche abgestellt hatte und ich sehnte mich nach Helen. Mein Vater würde wieder einen Streit anfangen, wenn er sähe, dass sie mit Absätzen über den teuren Parkettboden lief. Ich sagte nichts dazu, weil ich wusste, wie wenig Sinn das hatte. Sie schwang die Türe meines Zimmers auf und zeigte dramatisch auf meinen blitzblank sauberen Schreibtisch auf dem nicht mehr als ein paar penibel aneinander gereihte Bleistifte lagen und ein kleiner, weißer Würfel. Vorsichtig ging ich darauf zu. So vorsichtig, als könne es gleich in die Luft gehen. Meine Mutter beobachtete mich und sah nervöser und gespannter aus als ich. Es war eine kleine weiße Box mit einer schlichten, kleinen Prägung auf dem Deckel. Ich achtete gar nicht darauf und nahm den Deckel ab. Vermutlich eine weitere überteuerte Uhr, die ich sowieso nicht tragen würde. "Und?" Die Stimme meiner Mutter war beinahe nur noch ein entzücktes Quietschen. Ich starrte den kleinen schwarz silbernen Gegenstand vor mir in der Box an. Das war definitiv keine Uhr.

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