Jérôme #16

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Ich spürte die Tüte an meinem Bein lehnen und hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht geschmissen. Er trank seinen Kaffee, gemixt mit Alkohol, ein bisschen Kakao und Eiswürfel. Die Kombination klang ekelhaft und ich hatte den altbewährten Latte Macchiato gewählt, während Quinn im Schneidersitz und mit einem doppelten Espresso die Menschen durch die Glasscheiben beobachtete. Wie konnte dieser Junge sich einbilden mir die Tüte einfach so in die Hand drücken zu können? Ja, mir hatten die Sachen gefallen. Aber bedeutet das für ihn etwa automatisch, dass er mir unter die Nase reiben musste, wie erbärmlich ich war und dass er so viel mehr Geld hatte? Ich wollte keine Almosen! Oder hatte er es wirklich aus Nettigkeit gemacht? Aber er war nicht der Typ dafür. Er war ein Junge, der kleinen Kindern Angst einjagte, Omas die Gehstöcke klaute und am Wochenende zu laute Partys mit einem Joint in der Hand feierte. Wie könnte so ein Junge aus heiterem Himmel plötzlich nett sein? Zu jemand wie mir, dem er vor kurzem im Bus noch eine gescheuert hatte? Und weshalb ließ ich mich davon, dass ich die Antwort nicht wusste, so raus bringen? Er nippte an seinem Getränk und starrte mich ausdruckslos und durchdringlich an. Heute waren seine Augen wieder diese unergründlichen Steine, die mir einen solchen Schauer über den Rücken jagten. "Ziehst du die Sachen morgen an?" "Nein.", fauchte ich zurück. "Ich verbrenne sie bei der nächsten Gelegenheit." Er grinste belustigt. Wie er wohl reagieren würde, wenn ich es tatsächlich täte? Am liebsten würde ich es tun, bloß um sein Gesicht zu sehen. Aber ich konnte mir Verschwenderischkeit nicht leisten. Konnte ich noch nie. Was hatte er damit gemeint, dass er sich keine Sorgen um Geld machen musste? War er so reich? Aber weshalb ging er dann auf eine gewöhliche Schule? Ich starrte ihn todbringend an, während er mit unschulds Miene an dem Röhrchen saugte. "Ihr benehmt euch, wie ein altes Ehepaar.", meldete sich Quinn zu Wort, aber seine Stimme klang ausdruckslos und er sah uns nicht einmal an. "Jérôme ist die frustrierte Ehefrau." Durch seine ruhige, emotionslose Stimme klang die Beleidigung noch gemeiner. Das röchelnde Schlürfen von Jeremys Röhrchen, das verkündete dass sein Glas leer war, klang belustigt. "Halt die Klappe!", fuhr ich Quinn an, der sich bloß zu einem halben Schulterzucken herunter ließ und einer Frau in einem roten Trenchcoat mit einem beigen Mops auf dem Arm hinterher sah. Was fand er an Menschen so interessant? Ich seufzte und lehnte mich zurück gegen die Kunstlederlehne. "Wir müssen auch bald wieder zurück.", stellte Jeremy in seinem normalen, gelangweilten Ton fest. Langsam spürte ich wie sich Hunger durch meinen Magen schlängelte. Aber ich hatte nicht mehr genug Geld, um mir auch bloß einen Keks zu leisten und ich würde mich nicht wieder einladen lassen. Dann musste ich eben bis zum Abendessen warten. Ich sah auf die Uhr und wunderte mich darüber wie schnell die Zeit vorbei gegangen war. Quinn und Jeremy bekamen es zwar hin mich innerlich kochen zu lassen, aber wenigstens ging die Zeit schnell rum. " Was ist eigentlich für morgen geplant?", fragte ich beiläufig. "Wieder irgendeine Wanderung.", gab Quinn die ausführliche Antwort. "Wobei Herr Schamm überlegt hab, euch nicht mitzunehmen." "Wieso das denn?"Jeremy klang ernsthaft beunruhigt. " Weil man sich auf euch ja nicht verlassen kann und all so was." Jerwmys Muskeln zeichneten sich unter seiner Wange ab, als er die Zähne zusammen biss. "Das kann er nicht machen." Quinn sah ihn emotionslos an. "Du weißt genau, dass er das kann." Kurz musterten sie einander. Quinn ruhig und abschätzend, Jeremy mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem wütenden Funkeln in den Augen. "Du solltest ihm nicht so genau zeigen, dass es dir etwas ausmacht. Dann wird es ihm nur noch mehr Freude bereiten." Jeremy atmete genervt aus und eine kleine Spur von Genugtuung ihn wütend zu sehen breitete sich in mir aus. Er warf seinen Becher in einen Mülleimer und traf knapp. "Ich bin froh, wenn das hier alles vorbei ist. Unterricht ist ja noch besser als dieser Schrott." Quinn gab mit schräg gelegtem Kopf etwas Zucker in seinen Espresso. "Wir sollen doch Zusammenhalt lernen.", gab er zu bedenken. Diesmal klang Jeremys Ausatmen verächtlich. "Als würde das auch bloß eine Kleinigkeit ändern. Ich freue mich bloß noch mehr darauf, endlich raus zu sein." Quinn zuckte mit den Schultern nippte an seinem Becher und sah wieder aus dem Fenster. Ich sah Jeremy an. Wenn auch nicht freiwillig und auch wenn ich nicht benennen konnte, was genau, hatten die letzten Tage, die wir gezwungen worden waren aufeinander zu sitzen und Zeit miteinander zu verbringen, etwas verändert. Alleine die raschelnde Tüte an meinem Bein bestätigte das. Wer von uns beiden hätte gedacht, dass er mir je etwas spendieren würde? Vermutlich hätte er davor nicht einmal sagen können, welche Haarfarbe ich hatte, wenn man ihn gefragt hätte und vermutlich hätte es ihn auch nicht einmal interessiert. Und doch hatte ich jetzt das merkwürdige Gefühl zwischen uns war etwas passiert. Ich konnte nicht benennen was, konnte ja nicht einmal sagen, ob ich es mir vielleicht auch bloß einbildete, aber das Gefühl ging einfach nicht weg. Er hob den Kopf und erwiderte meinen Blick. Seine Augen schienen etwas zu sagen, aber ich wusste nicht was. Unmerklich schüttelte er den Kopf und wandte seinen Blick wieder ab. Ich starrte ihn verblüfft an. Dass er meinen Blick auf sich gespürt hatte, war nicht sonderlich außergewöhnlich. Aber was bedeutete der stumme Blickwechsel und das Kopfschütteln? Hatte er sich denken können, woran ich gedacht hatte? Meinte er, dass ich mich irrte und diese Änderung zwischen uns nichts war? Oder dass wir Stillschweigen bewahren sollten? Vielleicht hatte ich mir ja auch diese geheime Gestik Kommunikation zwischen uns gerade eingebildet. Oder er hatte etwas vollkommen anderes gemeint... "Mund zu." Er drückt meinen Unterkiefer hoch, so dass sich meine Lippen schlossen, die ich geöffnet hhatte, als hätte ich etwas sagen wollen und ein Kribbeln breitete sich von der Stelle aus, an der er mich berührt hatte. "Wir sollten langsam gehen.", stellte er fest und sein Stuhl schabte leise auf dem Holz des Bodens, als er aufstand. Am liebsten hätte ich ihn genau hier, vor Quinn und den ganzen anderen Gästen und der Gefahr, dass der Bus ohne uns losfuhr, zu Rede gestellt. Aber stattdessen folgte ich ihm bloß schweigend und mit dem warmen Becher in der einen Hand.

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