39. Mal

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»... jedenfalls dachte ich, dass dich das eventuell interessieren könnte.«

Ich hasste Dienstage. Während der Rest der Menschheit den Montag verabscheute, war der Dienstag der wahre Albtraum, denn er schlich sich an einen heran, wenn man glaubte, das Schlimmste überstanden zu haben.

Außerdem hatte ich an diesem Tag sechs Stunden lang Herr Peters, den wohl unbeliebtesten Lehrer an der gesamten Schule und davon gab es wahrlich viele. Er unterrichtete in Politik und Erziehungswissenschaften, was an sich sehr interessante Fächer waren. Sein konnten. Doch der erbarmungslose Mann startete seinen Unterricht stets mit einer hitzigen Diskussion über das Rauchen und den Übergenuss von Kaffee. Was vermutlich nur verstärkt wurde, seitdem es erlaubt war, eine eigene Kaffeemaschine im Klassenzimmer zu besitzen.

Da diese beiden Dinge zu meinen liebsten Beschäftigungen gehörten, waren diese Vorträge unerträglich.

Und noch nie war mir der Gang vom Klassenzimmer bis zum Treppenhaus so lang erschienen.

»... Immerhin bist du doch so oft aus, glaube ich und mir fehlen noch drei Mädels.«

Ich hatte seit Tagen nicht mit Noah geschrieben, was traurig war. Zerstörend. Zerschmetternd. Unbegreiflich. Er hatte Stress auf der Arbeit, wie immer in der Vorweihnachtsphase. Während dieser Zeit war er wie immer sehr ungenießbar. Das letzte Mal hatten wir uns vergangenen Montag gesehen, als ich ihm an einem Dönerladen in der Nähe seiner FH einen Antrag – den 38. – gemacht hatte. Es war nicht sonderlich überraschend oder kreativ gewesen, aber wir hatten einen Getränkegutschein abgestaubt.

»Wir treffen uns einfach direkt vor dem Club.«

Hörte Katja eigentlich nie auf zu reden? Bemerkte sie denn nie, dass ihre Anwesenheit nicht unbedingt erwünscht war?

»Aly!«, kam der errettende Ruf von Carla und ich konnte mich dankenswerterweise von Katja abwenden, um meine Aufmerksamkeit auf eine bedeutend wichtigere Person zu lenken. Meine beste Freundin.

»Du hast mich gerettet«, seufzte ich in Carlas Ohr und hielt meine Freundin auf Armlänge von mir entfernt, um sie zu betrachten. »Pink. Ehrlich?«

Grinsend fasste Carla sich an den Sidecut, der pink gefärbt war, und fuhr sich durch den Rest langer blonder Lockenmähne. »Man muss ja auffallen.«

Auffallen, natürlich. Das war eine Sache, aber absichtlich zu provozieren eine andere.

»Und was sagt dein Boss dazu?«,fragte ich, hakte mich bei ihr unter und verabschiedete mich von Katja.

Ich führte Carla an der langen Cafeteria-Schlange vorbei, um in der hinteren Ecke des Schulhofes in Ruhe zu sitzen. Trotz der kühlen Temperaturen drängelten sich einige Raucher aneinander und ich beobachtete sie sehnsüchtig. Eigentlich war ich eher eine Gelegenheitsraucherin, eine Eigenschaft, die ich mir von Nathalie abgeschaut hatte. Aber gerade lockte die Sucht.

»Hey, Aufmerksamkeit zu mir, Fräulein!«, fiel Carla mir in die Gedanken und kramte in ihrer überdimensionalen Handtasche nach ihrem Frühstück. »Wovon hat Katja eigentlich gesprochen?«

Ich verdrehte die Augen und zog mir meine Handschuhe an. Es war Anfang Dezember und die Temperaturen sanken. Sehr zu unser aller Überraschung. Der Weihnachtsmarkt boomte schon nach nur einer Woche und Noah, der während dieser Saison seinen Eltern mit einem Stand dort aushalf, war beinahe neun Stunden am Tag nur noch draußen. Was der Grund für unsere Durststrecke war. Ich vermisste ihn. Unheimlich.

»Sie hat eine Gruppen-Eintrittskarte für die Christmas-Show im Lotus

»Nicht. Dein. Ernst!«, rief Carla aus und einige Raucher drehten sich zu ihr um. »Und du hörst ihr nicht zu?«

Schnaubend fuhr ich mir durch die Haare, was ich sofort bereute. Mit Handschuhen keine allzu gute Idee. Aber natürlich hörte ich Katja nur bedingt zu, wenn sie wieder eine endlose Tirade darüber abließ, wie cool und beneidenswert ihr Leben war. Dabei war es alles andere als das. Denn wem fehlten schon drei Leute, wenn man eine Zehner-Gruppenkarte für den angesagtesten Club der ganzen Stadt hatte?

»Wir müssen da hin!« Noch immer brüllte Carla und zog mir schmerzhaft am Arm. »Ich hab versucht an Karten heranzukommen, aber die Preise sind astronomisch hoch! Ich will da hin, Al!«

Eigentlich war es fast ein Fehler, Carla als meine beste Freundin zu bezeichnen. Doch sie gehörte zu den drei Menschen, die ich liebte und denen ich vertraute. Neben Noah und Nathalie war sie die einzige Person, mit der ich freiwillig und gerne Zeit verbrachte, was sie wohl zu meiner besten Freundin machte, auch wenn wir uns meistens nur sahen, wenn sie mir ein Treffen aufdrängte.

Ich war halt schon immer ein Einsiedlerkrebs.

»Ja, okay«, knickte ich schnell ein. Immerhin war es ja keine schlechte Idee, einen Abend in menschlicher Gesellschaft zu verbringen. Ab und zu brauchte selbst ich das. »Ich werde ihr Bescheid geben. Nur fehlt uns noch eine.«

Ein diabolisches Grinsen erschien auf Carlas Gesicht und ich ahnte, was sie als Nächstes sagen würde. Doch niemals im Leben würde ich mich breitschlagen lassen, und Carlas Zwillingsschwester mitnehmen. Nicht nur sahen die beiden sich noch in ihrem Alter zum Verwechseln ähnlich, Clarissa war auch eine Nervensäge, die man kaum ertragen konnte. Die ich kaum ertragen konnte.

»Komm schon!«

»Kannst du heute nur betteln? Ich muss nicht immer auf deine Bitten eingehen, weißt du.«

»Aber du tust es dennoch. Weil du mich liebst. Und ich deine beste Freundin bin.«

Als Antwort grummelte ich etwas Unverständliches und schwor mir, mit Noah zu trainieren, um »Nein« sagen zu können. Denn das war nicht so leicht, wenn man jemanden wie Carla vor sich sitzen hatte. Sie hatte den weltbesten Hundeblick drauf und niemand konnte ihr etwas abschlagen, wenn sie es drauf anlegte.

»Jetzt müssen wir nur darüber reden, was wir anziehen!«

99 MalWhere stories live. Discover now