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Ohne den Lauf zu unterbrechen, kam ich in die Küche und joggte auf der Stelle, ehe ich von Nathalie im Vorbeigehen eine Wasserflasche in die Hand gedrückt bekam.

»Du läufst wieder. Sehr gut.«

»Hast du ... eine Minute?«

Nathalie wandte sich mir mit sorgsamer Miene zu. Ihre Haare waren auch an diesem Tag ordentlich hochgesteckt, ihr Hosenanzug saß tadellos. Ich sah nur selten, dass meine Cousine nicht aussah, als wolle sie in diesem Outfit beerdigt werden. Wahrhaftig war das mal ein Witz zwischen uns gewesen - die Frage, ob man mit dieser Kleidung sterben wollte und von Sanitätern aufgefunden werden musste. Es war ein Spaß gewesen, bis auch das es nicht mehr war. Wie viele Dinge in meinem Leben.

»Wenn es um das Wochenende geht, dann ist mir egal, was du mit dem Haus anstellst«, erklärte Nathalie und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Mein Taxi kommt in sieben Minuten und ich habe nicht vor, mit dir darüber zu reden, dass du alt genug bist.«

Schwer atmend stützte ich mich am Türrahmen zum Flur ab und beobachtete Nathalie, wie sie hin und her lief, einen Schal, ihre Handschuhe, Tasche und einen kleinen Reisekoffer zusammensuchte. Erst als ich vollends wieder zu Luft gekommen war, wagte ich es mich, zu sprechen.

Verdammte Lungen.

»Das war zwar nicht das Thema, aber danke. Ich habe tatsächlich vor, einige Leute hierher einzuladen.«

Nathalie schenkte mir einen »Siehst du«-Blick.

»Aber ich wollte mit dir über Alessandra sprechen.«

Als hätte ich soeben einen Schalter umgelegt, blieb Nathalie erstarrt stehen. Ließ die Hände an den Seiten baumeln und drehte ihren Kopf, damit sie mich über die Schulter hinweg ansehen konnte. In ihrem Blick lag keine Sorge, wie ich erwartet hatte. Wut viel eher.

»Vor einigen Tagen hast du mich angeschrien, damit ich diesen Namen nicht in den Mund nehme. Was hat sich geändert?«, fragte Nathalie tonlos.

Weil ich nicht in Worte fassen konnte, was ich sagen wollte, bückte ich mich zu dem untersten Fach der blöden Kommode, die zum ersten Mal einen Zweck erfüllt hatte. Da sie von Nathalie nicht genutzt wurde, hatte ich dort die Briefe versteckt, die eingetroffen waren. Allesamt ohne Absender, mit dem Stempelbild einer Calla draufgedruckt.

»Wieso gibst du mir das fünf Minuten, bevor ich gehen muss?« Nathalie klang vorwurfsvoll, doch genau damit hatte ich gerechnet. Ich war ein feiges Huhn, hatte dieses Gespräch absichtlich hinausgezögert.

»Es steht nicht viel drauf. ›Vermisst du mich denn nicht, Kleines? und ›Achte auf das weiße Kaninchen.‹ Kryptischer Mist.«

»Aber es macht dir dennoch Angst«, vervollständigte Nathalie meine Sätze und ließ ihre Handtasche geräuschvoll auf den Boden fallen. »Ich sage die Fortbildung ab und suche die Nummer des zuständigen Beamten heraus. Das könnte mitunter schon gegen ihre Auflagen verstoßen.«

Ich sprang meiner Cousine in den Weg und schüttelte den Kopf. Genau das war es gewesen, was ich hatte verhindern wollen. Deswegen hatte ich bis zur letzten Sekunde gewartet, da ich wusste, wie wichtig Nathalie diese Fortbildung war. Sie würde sie nicht sausen lassen, um ein Gespenst zu jagen. Was ich damit hatte erreichen wollen, war etwas anderes.

»Ich habe für Montagmorgen einen Techniker herbestellt, der neue Lampen im Garten und ein neues Sicherheitssystem installiert.«

Es kostete einen Haufen Geld. Das ich selbst nicht besaß, nicht ohne Job. Zum ersten Mal verfluchte ich meine eigene Faulheit, denn nur aus diesem profanen Grund brauchte ich Nathalie. Sie musste die Vorrechnung unterschreiben, damit der Installateur überhaupt beginnen konnte.

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