-

3.7K 281 43
                                    

»Ich hasse Schnee.«
»Es schneit nicht.«
»Ich hasse ihn dennoch.« Ich fuhr mir durch die ungekämmten Haare und seufzte theatralisch. Ich verachtete Sonntage auf dem Weihnachtsmarkt, egal bei welchem Wetter. Doch Noah hatte mich gebeten hinzufahren, um ihn abzufragen, während er arbeitete. Was nicht so lustig war, wenn man sich die Massen an Einkäufern vorstellte, die uns ständig unterbrachen. Kaum hatte ich eine Frage gestellt, kam der nächste Kunde. Oder Nicht-Kunde.

»Wieso so schlechte Laune?«, fragte mein bester Freund und die Frage ließ mich fast aus der Haut fahren. Schon Carla und Nathalie hatten mich nach meiner Stimmung gefragt. Als wäre ich jetzt miesepetriger drauf als sonst. Als gäbe es einen Anlass dafür.

Okay, es ging schnelleren Schrittes auf Weihnachten zu und das war nicht unbedingt mein Lieblingsfeiertag, aber deswegen verwandelte ich mich doch nicht in ein prämenstruelles Monster. Diese Woche des Monats lag hinter mir.

Ich stierte Noah wütend an und schnaubte. »Habe ich nicht.«

»Stimmt, du bist ein Sonnenschein der guten Gefühle.« Er bückte sich, um eine rote Gummibärchenschlange zu holen und hielt sie mir mit der Zange entgegen. »Vielleicht bist du unterzuckert.«

Ich warf ihm noch einen ärgerlichen Blick zu und fragte ihn weitere literarische Epochen ab, die ich selbst wieder vergaß, sobald ich sie ausgesprochen hatte.

Ich liebte das Lesen, das teilten Noah und ich uns. Auch wenn er eher die Klassiker bevorzugte und ich mir alles schnappte, was ich in die Finger bekam. Im Keller unseres Hauses hatte ich mir eine riesige Bibliothek eingerichtet, die nur ich und Noah betraten. Okay, nur Noah und ich. Der Esel nannte sich stets zuerst, ja ja. In dem Fall war ich gern ein Esel.

  

Als Noah eine Stunde später Pause hatte, entführte er mich zu einem kleinen Rundgang über den Markt. Er war zwar ständig dort und doch konnte er nach eigener Aussage nie genug von all dem Weihnachtstrubel bekommen. Er war zwar tierisch gestresst, aber ein masochistischer Teil von ihm liebte es. Ganz im Gegensatz zu mir. Neutral gesehen machte mir die Weihnachtszeit nichts aus, doch an manchen Tagen war es mir zu viel. Die Weihnachtszeit war mir schon immer nicht geheuer, was ich jedoch vor Noah nicht zugeben konnte. Ohne andere Dinge zu gestehen. Daher spielte ich das fröhliche Weihnachtswichtelchen. Manchmal.

»Willst du mir jetzt erzählen, warum du ein Gesicht ziehst, als wäre dein Hamster gestorben? Schon wieder?«

»Persephones Tod hatte nichts mit mir zu tun!«, beeilte ich mich zu sagen und steckte die Hände tiefer in die Manteltaschen. Ich erkannte den Geruch von Schokolade und versteckte ein leichtes Lächeln, indem sie das Kinn tiefer hinter meinem Schal vergrub. Vielleicht war ja wirklich nicht alles in der Winterzeit schlecht.

»Und als Hades starb, weil du ihn nicht in seinen Käfig zurück gebracht hast?«

Ein Kichern entwich mir. »Woher sollte ich wissen, dass Leila mein Zimmer saugen würde?«

»Und was war mit Thanatos? Es hätte Nat schon ein Hinweis sein müssen, dass du all deine Hamster die Namen griechischer Götter gabst, die etwas mit dem Tod zu tun hatten.« Noah grinste breit und als ich ihm die Zunge herausstreckte, umklammerte er mich von der Seite und drückte mich fest an sich, was einige der umstehenden Menschen zum Schnauben verleitete.

Immer diese gestressten Großstadtmenschen.

»Weißt du, worauf ich jetzt Lust habe?«, fragte ich gleich darauf und befreite mich schwermütig aus Noahs Umklammerung. Mir fiel der Geruch nach Zimt auf, der im Dezembermonat immer an ihm haftete. Als wäre er selbst ein Weihnachtsplätzchen. Zum Anbeißen war er ja zumindest.

»Auf Kaffee und einen Crepé?«

Ich antwortete nicht, stattdessen ergriff ich Noahs Hand und platzierte mich auf einem.Knie, wobei dieses den Boden nicht berührte. Nicht bei all dem Dreck hier. Es war eine seltsame Position und schon nach einer Sekunde schmerzte mir der Rücken. Was mich nicht von einem breiten Lächeln.abhielt.

»Mein Weihnachtsstern«,begann ich und sah Noahs Blick umherwandern.

Ich wusste, dass er das hier nicht wollte. Nicht dreißig Meter von seiner Arbeit entfernt, wo ihn alle ausfragen würden. Aber ich wollte ihm eins auswischen für die Verlobung an der Döneria oder der Frage in der Sporthalle..Ich wollte ihn überraschen, wie er das sonst immer tat. Eiskalt erwischen.

»Aly«, murmelte Noah und versuchte seine Hand aus meiner zu ziehen. Ein paar Menschen.blieben stehen und sahen uns interessiert an. Wie immer. Die Neugier überstieg stets die Geschäftigkeit der Masse.

»Mein Weihnachtsstern«, wiederholte ich und unterdrückte selbst ein Lachen, »wie viele gemeinsame Heiligabende haben wir uns schon geteilt? Sieben? Neun?« Ich pausierte und fasste mir mit meiner freien Hand an die Augenwinkel, obwohl sie staubtrocken waren. So gut schauspielern.konnte ich dann scheinbar doch nicht. Aber es musste reichen. »Wir teilen uns jede Mandarine, zelebrieren gemeinsam dieses heilige Fest und ich kann mir nicht vorstellen, was ich ohne deine Glühweinmischung anfangen würde.«

Einige Umstehenden lachten und machten Fotos, was mir zwar nicht gefiel, aber ich hatte damit angefangen und musste es jetzt beenden. Ich öffnete erneut den Mund, um meine vor Kitsch triefende Rede zu beenden, als Noah mich mit einem Ruck hochzog und küsste. Einfach so. Vor einer Masse an Menschen. Wir hatten vorher nie darüber gesprochen, ob ein Kuss für uns drin war oder nicht. Ab und an verlangten die Leute danach, also ergriffen wir die Chance. Es war nichts seltsames dabei gewesen, nicht so wie jetzt. Jetzt, wo keiner danach fragte, es noch nicht nötig gewesen wäre.

Stets musste Noah die Aufmerksamkeit auf sich selbst ziehen. Mir beweisen, dass er besser darin war, mich in Verlegenheit zu bringen. Ich entzog mich ihm und vergaß für einen Augenblick, dass ich grinsen musste.

So hatte das jetzt nicht laufen sollen.

»Natürlich will ich für immer an deiner Seite sein, Vanillekipferl«, brüllte er laut und drückte mich erneut an sich. »Das wirst du mir büßen«, flüsterte er in mein Ohr und pustete, weil ich das verabscheute. Rache war nicht immer süß.

»Aber, aber, mein Weihnachtsstern«, brachte ich hervor und war noch immer überrascht über den plötzlichen Kuss. Seine Lippen hatten nach Cola geschmeckt und hatten sich anders angefühlt als Daniels. »Vielleicht verdienst du ja genau das.«

Diesmal erwiderte Noah nichts, sondern griff lediglich um meine Taille und hob mich hoch, um mich unter dem Lachen und Gekicher der Weihnachtsmarktbesucher zu seinem Stand zurückzubringen. Ich konnte ihm seinen Unmut ansehen, auch wenn er versucht hatte, das zu überspielen. Sobald ich wieder stand und in Noahs müde Augen blickte, erkannte ich meinen Fehler. Meine Katastrophe des Tages.

Wir hatten aus gutem Grund die Regel aufgestellt, die Anträge nicht in unserem normalen Umfeld zu halten. Nicht nur konnte sich das schnell herumsprechen und zu ungewollten Fragen führen, auch war es besser für alle Beteiligten.

Wieso war ich so eine egoistische Kuh?

»Es tut mir leid«, sagte ich leise und streckte den Arm nach Noahs aus. Er wich vor mir zurück und zog sich neue Einweghandschuhe an. Sein Kiefer mahlte offensichtlich und wie gern hätte ich meine Aktion rückgängig gemacht.

Verdammt. Es war eine impulsive Handlung gewesen. Ich hatte nicht nachgedacht. Tat ich seltener als ich wollte.

»Weißt du, was passiert, wenn meine Eltern davon erfahren?«, presste er hervor und wandte seinen Körper vollends ab. Mit einem gespielten Lächeln bediente er zwei Teenager und nickte den anderen beiden Verkäufern zu, von dem einer jetzt Pause machte. Ich kannte den Rhythmus der Bude, hatte ihn schon viele Jahre miterlebt und mich immer gefragt, wieso nur Noah der Idiot seiner Familie war und hier schuftete. Seine Geschwister waren alt genug, um ebenfalls ihr Wochenende dafür aufzubringen. Aber sie standen weder im Laden noch am Stand. Das war allein Noahs Aufgabe.

»Noah, ich habe nicht nachgedacht. Ich war in Gedanken und wollte mich revanchieren und ...«

»Stimmt«, unterbrach er mich wütend. »Du hast nicht nachgedacht. Und ich darf mit der Konsequenz leben.«

»Noah«, begann ich von vorn, doch er schüttelte den Kopf.

»Wie du siehst, habe ich Kunden. Geh nach Hause, Aly. Wir reden die Tage darüber.«

99 MalWhere stories live. Discover now