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Die Tage flogen nur so vorbei. Noah nahm sich beinahe jeden Tag Zeit für mich und wie schon einmal spielte er mir einen Antrag nach dem anderen vor.
Manchmal wollte ich ihn darauf ansprechen und fragen, woher dieser Wandel und Anstieg der Treffen kam.

Natürlich liebte ich es, wenn ich Zeit mit Noah verbringen konnte und fühlte mich schlecht, wann immer ich ihm absagte, aber die Prüfungsvorbereitungen verschluckten Unmengen an Zeit.

Dabei war mir bewusst, dass es Probleme in Noahs Leben geben musste, über die er nicht sprach. Um ihn aus der Reserve zu locken und um endlich selbst mit der Sprache herauszurücken, lud ich ihn eines sonnigen Freitags zu mir nach Hause ein.
Was immer bei ihm vor sich ging, über das er nicht sprach, er würde keine Wahl haben, als mir endlich alles zu erzählen.

»Sorry«, kam er keuchend bei mir an und stieg mitten in der Fahrt von seinem Fahrrad. Dass er nicht hinunterfiel war für mich ein Wunder, vor allem da ich noch nie etwas mit dem Zweirädrigen Ungetüm anfangen konnte. »Ich musste noch Elaine verabschieden.«

Kurz zuckte ich zusammen und setzte umgehend wieder mein Lächeln auf. »Komm rein. Kaffee?«

Nickend setzte er seinen Helm ab, der zwar seine Haare ruiniert hatte, aber wenigstens dafür sorgte, dass er bei einem Unfall nicht schwerer verletzt wurde. Als Noah angefangen hatte mit dem Fahrrad zu fahren, hatte ich ihm das Versprechen abgenommen, dass er immer einen Held trug. Bisweilen hielt er sich daran.

»Ich wollte dir vor ein paar Tagen schon was sagen«, platzte es aus mir heraus, noch bevor wir die Küche erreicht hatten. Die Last all meiner Geheimnisse war zu groß, ich drohte unter ihnen zu versinken.

Es gab niemanden, mit dem ich reden konnte. Nathalie sprach noch immer nicht mit mir. Aber scheinbar verletzte sie mein Rausrutscher gegenüber ihren Eltern sie mehr, als meine Vergangenheit.

Sonst gab es keinen, der Bescheid wusste. Ich erstickte unter diesem Gewicht.

Noah blieb erstarrt stehen. Er runzelte seine Stirn und trat nur zögerlich näher heran. »Bist du etwa doch krank? Al, ich will es sofort wissen.«

»Es gibt etwas in meinem Leben, davon weißt du noch nichts und es hat etwas damit zu tun, dass ich noch eine Mutter habe.«

»Eine Mutter?« Noah sah so geschockt aus, wie ich mich im Innern fühlte. Er durchquerte die Küche und schnappte sich einen der Barhocker, um darauf Platz zu nehmen. Seine Wangen waren noch immer vom Fahren gerötet und seine Atmung ging weiterhin schnell.
»Wo hast du die denn her?«

Fast hätte ich über seine Antwort gelacht. Fast.
»Ich weiß schon sehr lange von ihr. Habe sie mit 16 ausfindig gemacht.«
Entgegen meiner Bedenken war es nicht schwer, das zu erzählen. Es kam leicht über meine Lippen und kurz hasste ich mich dafür, so lange geschwiegen zu haben. Auch wenn es besser gewesen war. Das musste ich mir zumindest immer wieder einreden.
»Sie hat das Feuer überlebt.«

»Und wieso erzählst du mir das jetzt?«

»Weil sie eine schreckliche Person ist.« Ich stockte. »Und wieder in mein Leben getreten ist. Un...« Mitten im Satz wurde ich unterbrochen, als es an der Tür klingelte. Noah wollte mich daran hindern hinaus zu gehen, hielt mich am Arm fest und wollte offensichtlich nicht, dass ich das Gespräch vertagte. Ich war allerdings stärker, sah ich hierbei immerhin die Gelegenheit doch noch einen Rückzieher zu machen.

Noch bevor ich die Tür öffnen konnte, hörte ich eine weibliche Stimme, gefolgt von einer männlichen und plötzlich stand ich Emma Percen gegenüber.

»Emma!«, rief ich euphorisch aus und umarmte die blauhaarige Frau, bevor sie überhaupt eine Chance hatte, zu reagieren. »Du bist da!«

»Habe ich nicht gesagt, dass ich komme?«, fragte Emma und löste sich von mir. »Alessandra Stiesing. Du bist erwachsen geworden.«

Ich rollte mit den Augen wie ein kleines Kind und bemerkte den Mann, der in Emmas Rücken stand, ähnlich wie Noah in meinem.
Mein bester Freund schien nicht glücklich darüber zu sein, Fremde hier zu haben. Besonders nicht, da ich ein so wichtiges Gespräch begonnen hatte. Was ich verstehen konnte. Ein Teil von mir fand die Unterbrechung auch mies, ein anderer Teil hingegen war dankbar für die Ablenkung und sah es als Wink mit dem Zaunpfahl.

»Du hast Anhang mitgebracht?«

»Anhang?«, wiederholte der Mann und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte kurze schwarze Haare und war sicherlich schon Ende Dreißig, den Fältchen in seinem Gesicht nach zu urteilen. Nicht ganz das Beuteschema, das Emma immer beschrieben hatte. Er passte allerdings zu ihr.

Auch Emma verdrehte die Augen, deutete vage in die Richtung des Mannes. »Das ist Jack. Mein Partner in allen Lebenslagen.«

Ich deutete zu Noah. »Das ist Noah. Noah, das ist Emma.«

»Schön Sie kennenzulernen«, sagte er umgehend und spiegelte Jacks Position. Die Arme vor der Brust verschränkt, ein regungsloser Gesichtsausdruck. Er war sauer auf mich. Mehr als das. Ich spürte förmlich die Wut aus all seinen Zellen dringen. Was ich verdiente.

Dennoch bat ich meine Besucher herein und beeilte mich, Kaffee für alle zu kochen.

Zwar war ich mir sicher gewesen, dass Emma mir helfen würde, aber doch nicht durch ihr Erscheinen. Und sicher nicht jetzt. Timing war noch nie ihre Stärke gewesen. Oder ihre einzige, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachten wollte.

Gleichzeitig machte ihr Auftauchen mich nervös, denn eine kleine Stimme sagte mir, dass sie nicht ohne Grund hier erschien.

»Wollt ihr etwas essen?«

Emma schüttelte den Kopf und sah sich um, während sie in die Küche humpelte. Mein Blick fiel umgehend auf den Gehstock, den Emma bei sich trug. Ich wusste vielleicht nicht wirklich viel über Emma, aber eines war sicher: Das Fehlen der High Heels war neu.
Emma hatte immer Schuhe mit Absätzen getragen. Meistens waren die höher gewesen, als es einem Menschen möglich sein sollte, darin zu laufen. Aber Emma hatte es gemeistert, mit solchen Schuhen jede Strecke zu überwinden.

Schade dass ihre offensichtliche Beinverletzung sie jetzt daran hinderte.

»Schickes Haus, das deine Cousine hier hat.«

»Wo ist eigentlich deine Cousine?«, fragte Jack und wich nicht von Emmas Seite. Anders als Noah, der im Türrahmen der Küche stehen blieb und die Gäste musterte, als wären sie Außerirdische. Es passte nicht zu ihm, so unfreundlich zu sein. Doch besondere Momente erforderten besondere Verhaltensmuster ..?

»Sie besucht Yvette.«

»Yvette«, sagte Emma grinsend und nahm sich einen der Hocker, die überall in der Küche standen. Leila würde am nächsten Tag sicher wieder mit mir meckern, welche Unordnung ich hinterließ, wenn ich später nicht aufräumte. »Wie geht's ihr?«

In dieser Art plauderten wir weiter. Locker und ungezwungen und falsch. Keinem von uns konnte nach spaßen und SmallTalk zumute sein, aber das war eines der menschlichsten Talente: Im Angesicht einer schier unbehaglichen Situation so zu tun als wäre alles in bester Ordnung.

99 MalWhere stories live. Discover now