48. Mal

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Yvette blieb noch einige Tage in der Stadt, was mir die gewünschte Ablenkung verschaffte, die ich brauchte. Ich wollte nicht über Silvester nachdenken und auch nicht darüber reden, was Carla zwar aufregte, aber in diesem Falle war ich ein Egoist.

Wir verbrachten die meiste Zeit vor dem Fernseher, wo wir uns Wiederholungen von schlechten Liebesfilmen ansahen und darüber sprachen, welcher der Schauspieler am attraktivsten war.

Typisches Mädchengeschwätz, das Nathalie und Yvette wieder in junge Frauen verwandelte und mir ein Gefühl von Heimat gab. Als das Wochenende vorbei war, musste Nathalie wieder zur Arbeit und hasste es. Yvette hatte beschlossen, noch einen Tag länger in der Stadt zu bleiben, was jedoch zu ungeahnten Konsequenzen führte.

»Du musst auf Philipp aufpassen!«, schrie Yvette am Montagmorgen und rannte von ihrem Wagen zur Tür, wo ich in Schlafanzughosen und einer Tasse Kaffee stand. Ich war noch nicht sehr lange wach und dementsprechend langsam in meinem Denken.

»Was?«

»Philipp. Mein Sohn. Du erinnerst dich«, kreischte Yvette ungehalten weiter und erinnerte sich scheinbar, dass sie genau diesen Sohn im Auto sitzen hatte. Sie rannte zurück und ließ den achtjährigen Jungen mit den schwarzen Locken aussteigen, der eine Plastikpuppe in der Hand hielt und einen Rucksack auf dem Rücken trug, der größer war als er selbst.

Das letzte Mal, dass ich Philipp gesehen hatte, war fünf Jahre her. Als Yvette und Nathalie mich zu meinem Gerichtstermin in Frankfurt gebracht hatten. Er saß damals, wie jetzt, auf dem Rücksitz und schaute aus dem Fenster. Nicht viel Zeit, um mich mit dem Knirps anzufreunden.

Yvette nahm ihren Sohn an der Hand und führte ihn zu mir, während ich noch immer nicht ganz verstand, was hier gerade vor sich ging. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass Yvette am Morgen das Haus verlassen hatte und jetzt drückte sie mir regelrecht ihr Kind in die Hand. Was zur Hölle?

»Ich muss Luc abholen.«

»Wo ist er denn?«, fragte ich und trank einen weiteren Schluck Kaffee, in der Hoffnung, dass dieser die noch schlafenden Synapsen in meinem Gehirn reaktivierte.

»Er wollte mit seinen Freunden auf ein Konzert irgendeines Musikers.« Yvette machte eine abwertende Handbewegung. »Ich habe es ihm verboten. Heute Morgen wollte ich die beiden von ihrem Vater abholen, wie vereinbart. Und er war weg. Wollte selbst nach München fahren, der Idiot.« Sie schnaubte und ließ Philipp los, der bemerkenswert ruhig war. Sollten Jungs in dem Alter nicht ungehalten laut und frech sein? Oder so? »Deswegen musst du auf Philipp aufpassen, bis ich wieder hier bin. Danke, du bist ein Schatz!«

Und bevor ich Zeit hatte, etwas zu sagen, war Yvette wieder in ihren Wagen gestiegen.
Sie kurbelte das Fenster herunter. »Mist! Kannst du vielleicht mit ihm ins Einkaufszentrum? Er braucht neue Turnschuhe. Die letzten hat er gegessen!«

»Er hat sie gegessen?«, wiederholte ich und sah zu dem kleinen Mann hinunter, der vor mir stand und seine Mutter anstarrte. Hatte ich das gerade richtig verstanden?
Wirklich?

Yvette lachte durch das Fenster hinaus. »Er hat sich den Film mit diesen gelben Dingern angesehen. Die, die nicht sprechen können. Jedenfalls habe ich ihm nicht erlaubt, Popcorn zu essen. Er hat versucht die Schnürsenkel zu essen und den Schuh auseinander genommen.«

»Das ist ... erschütternd«, sagte ich und sah abermals auf den Jungen hinunter, der ja doch recht groß war. Er reichte mir bis zur Hüfte. War das normal? Ich kannte mich nicht mit Kinderwachstum aus, hatte mich schon von Noahs Geschwistern ferngehalten.

Eine dumme Eigenschaft für jemanden, der in sozialpädagogischen Einrichtungen arbeiten wollte, ich weiß. Aber ich ging den komplizierten Weg nur, weil ich dank deshalben versäumten Jahres nicht die Noten hatte, um in den Abiturjahrgang gelassen zu werden. Da eine Wiederholung für mich ausfiel, nahm ich eine andere Schulform und wollte mein Fachabitur machen. Dieses Jahr. In wenigen Wochen. Wenn ich endlich mal die Muße hatte, für die Prüfungen zu lernen.

»Du bist wahrlich ein Schatz!«, war das letzte, das Yvette sagte, ehe sie mit klischeehaft quietschenden Reifen rückwärts aus der Einfahrt fuhr.

Ernsthaft? Das war gerade wirklich geschehen?

Weil ich hoffte, noch zu schlafen, kniff ich mir in den Unterarm, doch ich schien wach zu sein.

Hilflos lächelte ich Philipp an. »Erinnerst du dich noch an mich?«

»Du bist Lyssa«, sagte er umgehend.

»Ähm, ja. Damit können wir arbeiten. Komm wir – hey, was ist mit dir los?«

Eben hatte er noch gelächelt, seiner Mutter hinterhergewunken und jetzt hatte er die Unterlippe vorgeschoben und ... O Gott. Weinte er? Gehörte er zu den Kindern, die es nicht ertrugen, von ihren Eltern getrennt zu sein?

»Ich muss mal aufs Klo«, sagte er jedoch und wackelte mit den Beinen.

Erleichtert seufzte ich und nahm ihn an die Hand, um ihn ins Badezimmer zu führen. Wenn es weiter nichts war, konnte ich damit zurecht kommen. Was konnte schon so schlimm sein? Er war sieben Jahre alt – glaubte ich. Demnach auch schon in der Schule. Die meisten Grundregeln des normalen Menschenverstandes musste er schon beherrschen, damit konnte ich arbeiten.

Da ich ihm seine Privatsphäre lassen wollte, schloss ich die Tür zur Hälfte und blieb im Flur stehen.
Erst als ich Wasserplatschen hörte, wurde ich aufmerksam.

»Philipp?«, fragte ich vorsichtig und stieß die Tür mit dem Fuß auf. Nur um festzustellen, dass meine schlimmsten Vorstellungen genau der Realität entsprachen. Philipp grinste, nur noch in Socken und Pullover bekleidet, während der Rest seiner Kleidung in der Toilette steckte.

In der Toilette.

»Ich wollte waschen!«, verkündete er stolz und rannte an mir vorbei in den Flur. Wie hatte ich erwarten können, dass eines von Yvettes Kindern pflegeleicht sein könnte. Wie die Mutter, so der Sohn. Sie war speziell, natürlich war ihr Sohn es auch.

Verdammt.

Innerhalb der kommenden Stunde schaffte Philipp es, Bob auf der Terrasse auszusperren (viermal), ein Nutellaglas und ein Wasserglas von der Theke zu schmeißen, alle DVDs im Wohnzimmer aus den Regalen zu räumen und zu einem schiefen Turm zu formen (dreimal) und mehr zu essen, als ich noch daheim hatte.

Ich war nach kurzer Zeit erschöpft. Nein, ich war am Ende. Wer behauptete, Kinder wären einfach, musste gestört sein.

Meine bisherigen Praktika hatten sich meistens in Krabbelstuben oder einem Kinderhort zugetragen. Dort, wo die Kinder entweder zu klein für solchen Blödsinn oder zu groß waren.

Philipp war genau in dem Alter, das ich nicht mochte. Erstes Jahr der Grundschule, scheinbar höchst unberechenbar, höchst motiviert und noch dazu, je nach Erziehung, eine echte Nervensäge. Ich liebte Yvette, aber ihren Sohn lernte ich gerade von seiner schlimmsten Seite kennen.

»Ist sein Verhalten normal?«, stöhnte ich kurz darauf zu Carla ins Telefon und war froh, dass Philipp Spaß damit hatte, seine Comichefte – in denen er leider noch nicht lesen konnte – anzuschauen.

»Er ist sieben? Hat getrennte Eltern? Und du bist nicht gerade die autoritärste Person. Also ja, er ist vollkommen normal. Er testet dich. Passt du denn im Unterricht nie auf?«

»Ich hab nicht erwartet, dass ich mal in diese Situation komme!«, erklärte ich eine Spur zu laut und fasste mir an die Haare. Durch das ständige Herumrennen und Aufräumen war ich kaum dazu gekommen mich anzuziehen, geschweige denn mich zu frisieren oder zu schminken.

Nie hatte ich angenommen, dass ein Kind, das alt genug für die Schule war, so eine Arbeit machen konnte. Immerhin konnte Philipp eigenständig in Sätzen sprechen, laufen, alleine auf die Toilette und auch selbstständig essen. Er schaffte es, einige Buchstaben des Alphabets zu erkennen und zählte ohne Probleme bis 100. Und dennoch war er so furchterregend anstrengend.

99 MalWhere stories live. Discover now