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»Was meinst du ... O Gott. Philipp?« Ich drehte mich um, zu dem Platz, an dem er vor einer Sekunde noch gestanden hatte.

Vor einer Sekunde. Vor einem verdammten Blinzeln! Wie schnell konnte er sich denn flügge machen? Besaß er Superkräfte?

»Ohje«, sagte der Bartträger und auch er sah geschockt aus. »Ich rufe mal den Sicherheitsdienst her.«

»Ja, tun Sie das!«, herrschte Noah ihn in einem ungewohnt strengen Ton an, der mich überraschte. Nur kurz jedoch, da ich mich sofort auf die Suche durch die Regale machte. Vielleicht war Philipp erst losgeflitzt, als er gehört hatte, dass er sich etwas aussuchen durfte? Er kroch höchstwahrscheinlich durch die Gänge und suchte sich ein Spielzeug aus.

Doch er war nicht da. Er war nicht mehr länger im Laden. Yvette würde mich umbringen. Ach, ich selbst würde mir das nicht verzeihen.

Er war doch erst sieben, viel zu klein für so ein enormes Einkaufszentrum. Herrgott, er brauchte noch einen Kindersitz fürs Auto! Und ich hatte ihn einfach unbeaufsichtigt gelassen. Es war meine Schuld, wenn ihm etwas geschah.

»Philipp? Das ist kein Spaß!«, schrie ich laut und drehte mich immer wieder um mich selbst. Noah kam von der Einkaufspassage mit einem untersetzten Mann auf mich zu, der ein ernstes Gesicht machte. Auf seinem Namensschild stand »Stefan Lerren, Sicherheitsdienst«. Doch er sah eher wie ein typischer Sesselfurzer aus.

Ich atmete schneller ein und aus und wollte schon wieder losrennen. Noah hielt mich zurück. Er besprach mit dem Sicherheitsdeppen, wie Philipp aussah und was er trug, damit sie es durch die Sprechanlage verkünden konnten.

Philipp war ja nicht dumm, wenn er hörte, dass wir ihn suchten, würde er aus seinem Versteck wieder auftauchen. Hoffte ich. Denn wenn nicht ...

Was, wenn ihn jemand entführt hatte? Wenn er weggelaufen war und zu Schaden kam? Yvette würde mir das niemals vergeben können. Ich selbst würde mir das niemals verzeihen.

Tränen bildeten sich in meinen Augen. Schon wieder. Doch unnachgiebig lief ich in jeden Laden meiner Etage, fragte Leute, ob sie Philipp gesehen hatten. Mein Herz schlug viel schneller als normal und in meinem Kopf wirbelten die Szenarien herum, was das zu bedeuten hatte.

Die erschreckendste Theorie wollte ich nicht zulassen, da ich Angst davor hatte, mir einzugestehen, dass ich an Silvester doch jemand bestimmten gesehen hatte. Und das hieß für Philipp könnte jede Hilfe zu spät kommen. Soweit wollte ich nicht denken.

Ich war so dumm gewesen. Gedankenlos und einfältig und bescheuert und unaufmerksam. Das war die erste Lektion gewesen, die wir auf der Schule gelernt hatten.

Passt auf die Kinder auf, denn sie sind kreativ im Verschwinden.

Gut, die Lehrer hatten es nicht so ausgedrückt, aber im Augenblick war mir der wahrhafte Wortlaut egal. Nicht egal war mir, dass ein siebenjähriger Junge, der sich in diesem Einkaufszentrum nicht auskannte, verschollen war und das allein meine Schuld war.

»Was ist, wenn er...«, begann ich an niemand bestimmten und spürte das Schluchzen in meiner Kehle hochkriechen. Dabei wollte ich nicht weinen. Nicht jetzt, wo ich zur Abwechslung mal einen kühlen und rationalen Kopf behalten musste. Sonst schaffte ich das doch auch, verdammt noch mal!

»Alyssa, beruhige dich«, warnte Noah und griff nach meiner Hand. Keine Ahnung, wo er jetzt wiederhergekommen war. »Leonie ist früher andauernd abgehauen. Wir finden ihn schon, keine Panik.«

Was natürlich genau das Falsche war.

Keine Panik. Keine Panik. Keine Panik?Wusste er überhaupt, mit wem er sprach?
Ich war dafür bekannt, eher selten in Panik zu verfallen. Ich hätte vermutlich selbst auf der Titanic Ruhe bewahrt und die Leute zu ihren Rettungsbooten geführt.

Ich konnte stets meine Gelassenheit bewahren und nur innerlich ausflippen. Das war meine Stärke. Vermutlich meine einzige. Nicht so jetzt.

Noah zog mich in einen Buchladen, den ich hatte meiden wollen. Philipp las nicht gerne, jedenfalls nicht, wenn es keine Comics waren und er sich selbst etwas ausdenken konnte.
Vielleicht hätte er Autor werden können. Eigene Geschichten schreiben können. Oder er wäre Filmregisseur gewesen. So viele Möglichkeiten hatten ihm offen gestanden und jetzt hatte ich dafür gesorgt, dass ...

»Und dann erschlug der Drache sie! Zack, bäm, bumm!«

Ich konnte nicht schnell genug stehenbleiben, wie Noah mich zurückzog. Ich stolperte und unterbrach somit Philipps kleine Aufführung. Eltern standen um ihn herum, einige andere Kinder starrten gebannt auf seine Lippen und er hielt ein Buch hoch, das den einprägsamen Titel »Kleiner Drache« trug. Es schien ein Vorschulbuch zu sein, mit nur wenigen Sätzen Geschichte.

Gerade hatte ich noch an seine Vorliebe gedacht und dennoch wäre mir nie in den Sinn gekommen, an diesem Ort nach ihm zu suchen.

»Philipp!«, sagte ich atemlos und weniger streng als erwartet. Ich drängte an den Erwachsenen vorbei und fiel vor ihm auf die Knie, die ohnehin zu stark zitterten, um sie aufrecht zu halten. »Du kannst nicht einfach davonlaufen!«

»Ihr habt Erwachsenenkram gemacht«, beschwerte er sich und legte das Buch beiseite. Er starrte mich böse an. Als hätte ich ihm gerade einen Schrecken eingejagt. »Ich wollte mir ein Spielzeug aussuchen und ihr habt nur geredet.«

»Deswegen rennt man doch nicht weg! Du hast uns einen riesigen Schrecken eingejagt.«

»Ich wollte Geschichten erzählen.« Er schob seine Unterlippe vor und sein Blick richtete sich auf den Boden, als wäre er derjenige, dem etwas Böses widerfahren war.

Während ich mir noch überlegte, was ich sagen konnte, kam Noah an meine Seite und fing an, mit Philipp zu sprechen.

Darüber, dass man nicht einfach abhauen konnte, nur weil es langweilig wurde. Dass das ganze Haus nach ihm suchte und dass er mächtigen Ärger bekommen konnte, wenn er das noch einmal tat. Ich ließ Noah die Ehre, den bösen Part heraushängen zu lassen. Ich war nicht gut darin und das Bedürfnis, Philipp ein Spielzeug zu kaufen, weil er wieder da war, überstieg alles.
Was selbstredend keine gute Erziehungsmethode war und ich es deswegen nicht in die Tat umsetzte. Aber der Drang danach war vorhanden.

Etwas kitzelte in meinem Nacken. Kein materielles Etwas, keine Haarsträhne. Nur ein unbestimmtes Gefühl, das ich ignorieren musste. Seitdem ich von der Haftentlassung von Alessandra Senior gehört hatte, war ich nervös und unausgeglichen. Das musste aufhören. Ich durfte nicht meine guten Vorsätze nach nur wenigen Tagen von mir schmeißen.

Zeit, dass ich ein paar der Ziele in die Tat umsetzte. Aber erst nachdem ich den Teufelsbraten mit dem süßen Gesicht bei seiner Mutter abgesetzt hatte. Und mir einen alternativen Beruf suchte.

99 MalWhere stories live. Discover now